Als ich gestern aus dem Friseurladen trat, stand dort Benny.
„Biste gefallen? Du humpelst ja.“
Der junge Mann steht oft vor dem Friseurladen und spricht freundlich neugierig alle Passanten auf dem Gehweg an. Benny ist geistig behindert.
„Nein, ich bin nicht gefallen. Ich bin behindert.“
„Ach so“, antwortet Benny.
Damit war das kurze Gespräch beendet. Das war mir auch Recht.
Ich persönlich hab zwar nix gegen Behinderte. ;-) Aber gegenüber geistig Behinderten fühle ich mich immer unsicher, wie ich regieren soll. Mit körperlich Behinderten scheue ich meist ein längeres
Gespräch, weil ich keinen Bock auf den „Betroffenheits-Konntest“ habe.
Wem geht es schlechter? … Wer hat das größte Handicap? … Welche Erlebnisse sind schlimmer?
Gesunde Menschen sind meiner Behinderung gegenüber häufig unsicher, verklemmt.
Hingegen erlebe ich Kinder im Kontext meiner Behinderung am Ehrlichsten. Da ich selbst einen knapp 7-jährigen Sohn habe, treffe ich in meinem Alltag regelmäßig auf Kinder. Die Reaktionen der
Kinder auf meine Behinderung finde ich immer gut. Weil sie ehrlich sind. Nicht verklemmt, sondern unbefangen.
Letzte Woche war ich mit meinem Sohn auf einem Spielplatz. Wir trafen uns dort mit zwei seiner Freunde und deren Müttern. Die Jungs tobten rum, wir Muttis schwatzten. Zwar schien die Sonne, aber
es war dennoch kühl. Deshalb beschloss ich, mit Raoul, meinem Rollator, eine Runde über das weitläufige Gelände zu machen. Von hinten kam der 6-jährige Moritz mit dem Fahrrad
angesaust.
„Wieso gehst du so langsam?“
„Weil ich behindert bin.“
„Was ist behindert?“
„Ähhm … also … ich bin krank.“
„Ach so. Ich bin auch krank. Ich hab‘ Husten.“
Moritz schien vollkommen zufrieden mit meiner und seiner Antwort und sauste weiter.
Die kindliche Unbefangenheit gegenüber meiner Behinderung erlebte ich zum ersten Mal, als ich damals meinen Sohn täglich in die Kita brachte.
„Hast du Aua“, fragte mich eines Morgens ein kleines Mädchen, an dem ich im Flur vorbeihumpelte.
„Ist das immer so bei dir“, wollte ein kleiner Junge wissen, nachdem er mich monatelang beim „Bringen“ gesehen hatte.
Die Fragen der Kinder finde ich okay. Mein Gang ist oft außergewöhnlich, der Grund dafür steht mir aber NICHT auf die Stirn geschrieben. Deshalb gilt:
WER NICHT FRAGT BLEIBT DUMM.
Und die Kids im Kindergarten starrten wahrheitsgetreu. Aber auch das störte mich nicht. Im Gegenteil. Ich lernte: Je mehr die Kids starrten, desto sichtbarer war an diesem Tag mein Handicap.
Insofern bot mir das Starren mehr Reflexion als jeder Spiegel.
Meinem eigenen Kind und auch anderen Kindern gegenüber versuche ich immer, meine Andersartigkeit weniger fremd zu machen. Obwohl dieser Versuch schon manches Mal schief ging.
So wie damals:
Die Kinder, Eltern und Erzieherinnen des Kindergartens, den mein Sohn besuchte, machten einen Ausflug in den Tierpark. Da die Wege dort sehr lang sind, nahm ich Fiedel, meinen Rollstuhl, mit.
Direkt am Anfang kam die kleine Lotta zu mir und fragte:
„Warum sitzt du denn da? Da sitzen doch sonst nur alte Männer!?“
„Na weil ich wegen meiner Krankheit nicht so gut gehen kann. Und hier im Tierpark sind die Wege so lang. … Es ist bequem in so einem Rollstuhl. Magst du auch mal hier
sitzen?“
„Nee.“
Lotta lief schnell zu ihrer Mama. Aber alle 15 Minuten kam sie wieder zu mir und beäugte neugierig meinen Rollstuhl.
Jedes Mal fragte ich: „Willst du mal hier sitzen?“
Jedes Mal rief Lotta: „Nee“ und lief weg. Als Lotta zum siebten Mal kam, fragte sie selbst: „Kann ich mal da sitzen?“
„Na klar“, antwortete ich und stand auf. Lotta setzte sich und ich schob den Rollstuhl. Aber nach zehn Metern fiel eines der kleinen, vorderen Lenkräder ab. Fiedel kippte zur Seite.
Daraufhin sagte die Mutter von Lotta, dass ihr Kind nun nicht mehr in dem Rollstuhl sitzen solle.
Mein Sohn kennt mich nur mit MS. Und mit stetig größer werdendem Handicap. Er staunt mit weit aufgerissenen Augen, wenn ich davon erzähle, dass ich als Kind wild war - auf
Bäume kletterte, mit anderen Kindern tobte und mich mit ihnen raufte. Für meinen Sohn ist es nicht vorstellbar, dass ich früher „normal“ war. Für ihn ist es „normal“, dass ich ein Handicap und
deswegen viele Hilfsmittel habe. Sein Umgang mit meinen Hilfsmitteln ist meistens spielerisch. Sei es die Unterarmgehhilfe, die zum Gewehr umfunktioniert wird. Oder der Indoor-Rollator, mit dem
mein Sohn gerne über die Rampe in unserer Wohnung braust und den Rollator als „Eis-Auto“ ausgibt. Bei gutem Wetter veranstalten wir auch manchmal Rennen in der langen Hof-Einfahrt: Mein Sohn mit
seinem Kettcar gegen mich mit meinem Rollstuhl. Fast immer gewinnt mein Sohn.
Bis er circa viereinhalb Jahre alt war, saß mein Sohn gerne auf meinem Schoß, wenn ich mit Fiedel unterwegs war. In der Öffentlichkeit zog dieses „Gespann“ immer viele Blicke an. Mittlerweile ist
mein Sohn zu groß und zu schwer, als dass ich uns gemeinsam rollen könnte. Aber er stellt sich gerne auf den Kippschutz, hält sich seitlich am Griff fest und spielt
Müllabfuhr.
Seine Ideen finde ich süß. Und sein Wohlwollen gegenüber meiner Behinderung ist fast grenzenlos.
„Mama, ich würde mein ganzes Geld ausgeben, um eine Tablette zu kaufen, wenn es die geben würde, damit du
wieder gesund wirst.“
Seine Anteilnahme an meinem „Schicksal“ rührt mich gelegentlich zu Tränen. Anfang des Jahres 2018 kam ein Gutachter des MDK zu mir, um über den Pflegegrad-Antrag zu entscheiden. Als der Termin
vorbei und der Gutachter weg war, fragte mein Sohn:
„Und Mama, gibt’s Hilfe?“
Heulend schluchzte ich:
„Ja…a…a…“
Natürlich ist nicht alles lieb und süß. Weil Erwachsene nun mal Vorbilder für Kinder sind, ahmt mein Sohn mir Einiges nach. Manchmal humpelt er, um auszudrücken, dass es ihm nicht gut geht. Genau
wie seine Mama setzt sich auch mein Sohn hin, um sich anzuziehen. Und bisweilen sagt mein Sohn auch sehr ehrlich, dass er Angst um seine Mama habe. Das zu hören, fällt mir natürlich schwer. Aber
dennoch ist es in Ordnung. Denn die Aussagen und Reaktionen der Kinder sind ohne Verstellung. Sie sind ehrlich - offen - aufrichtig.
Nur wer erwachsen wird und ein Kind bleibt, ist ein Mensch. (Erich Kästner)
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