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Meine 2. LP

Seit Wochen schon hatte ich den Termin für eine LP

[LP = Lumbalpunktion; eine Untersuchung, bei der mit einer langen Hohlnadel der Spinalkanal punktiert wird, um Liquor (Nervenwasser) zu entnehmen].

Sofort dachte ich:
„Supi - der Titel zu dem Blogartikel steht schon. Meine zweite LP. In dem Artikel kann ich witzige Wortspiele darüber machen, dass bei ‘ner LP der Inhalt mit Hilfe einer Nadel abgetastet wird.“


Meine erste LP hatte ich 2006. Damals diente die Untersuchung des Liquors der Diagnose meiner MS. Diese Untersuchung passierte während meines zweiten stationären Klinik-Aufenthaltes in meiner MS-Karriere. Zuvor war ich noch nicht oft in Krankhäusern, bei Ärzten, etc. Schon deshalb war es befremdlich.
Kurz zuvor hatte ich mich einer alternativen Therapie in einer luxuriösen Privatklinik unterzogen. Die LP hingegen fand im örtlichen Kreiskrankenhaus statt. Ein krasser Unterschied. In der Privatklinik war Alles etepetete, im Kreiskrankenhaus war Alles profan. Bei diesem Aufenthalt erlebte ich erstmals eine absolut distanzlose Mitpatientin, die sich sehr lange splitterfasernackt der Zimmerbesatzung und dem Arzt präsentierte. Auch das: Sehr befremdlich.
Die erste LP fand im Liegen statt. Es waren zwei Stück medizinisches Personal anwesend. Einer führte die Punktion bei mir durch, der andere legte sich Ganzkörper auf meine Beine. Diese zuckten dermaßen heftig, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte. Mehr als befremdlich.


Wegen dieser Erinnerung war ich im Vorfeld recht nervös vor meiner 2. LP.
Aber erstens kommt es anders und zweitens als man denkt!


Die Uniklinik war sehr okay. Die neurologische Station dort ist empfehlenswert - weder zu schick à la Privatklinik noch zu profan à la Kreiskrankenhaus. Den Aufenthalt dort versüßte ich mir mit Anja-typischen Scherzen.
Zum Beispiel am ersten Nachmittag: Ich hatte kurz Zeit und fuhr mit meinem Rollstuhl Fiedel vor das Gebäude, um eine Zigarette zu rauchen. Auf dem Rückweg gestaltete sich das Fahren mit Fiedel langsamer, weil es vor dem Eingang eine leichte Steigung gibt. Ein junger Mann kam auf mich zu, sagte: „Ich helfe Ihnen mal eben“, und wollte schon die Schiebegriffe packen.
„Nein danke“, war meine prompte Entgegnung, „ich bin nicht behindert, ich trainiere nur meinen Bizeps.“
Der Mann schaute irritiert drein. Die Frauen um ihn herum lachten und meinten, dass meiner tatsächlich größer sei als seiner. Weil er daraufhin recht depremiert aussah und weil ich seine hilfsbereite Aufmerksamkeit nicht generell auslöschen wollte, erklärte ich:
„Das war nur ein Scherz. Vielen Dank für das Angebot, aber ich möchte es gerne selbst schaffen.“

Auch sehr lustig: Am Tag vor der LP kam ein Ärztetross an mein Patientenbett. Der Oberarzt fragt mich, ob ich aufgeklärt sei.
:-)    :-)     :-)

Die LP selbst erlebte ich anders als befürchtet. Der Eingriff fand in meinem Patientenzimmer statt. Ein weiblicher Assi    und eine junge Medizinstudentin wiesen mich an, mich auf mein Bett zu setzen. Als mir bewusst wurde, dass die junge Medizinstudentin die LP durchführen würde, fragte ich besorgt:
„Haben Sie das schon mal gemacht?“
„Ja ja.“
Nachdem sie die Punktionsnadel im Bereich der Lendenwirbelsäule eingeführt hatte, fand sie nicht den Weg in meinen Spinalkanal. Immer wieder pickste und kratzte die Nadel an der Knochenhaut meiner Wirbel. Unbeschreibliche Schmerzen. Ich schrie immer wieder laut auf. Krallte mich in das Kissen, über das ich mich nach vorne beugen sollte. Schließlich heulte und schluchzte ich. Dann übernahm die Assistenzärtzin. Die Nadel steckte endlich im Spinalkanal. Aber der Liquor lief nur sehr langsam heraus. Die Assistenzärtzin wies mich an, zu drücken, so wie beim Stuhlgang auf Toilette.
„Und was ist, wenn ich wirklich aufs Bett kacke?“
„Das ist nicht schlimm.“
„Na Sie müssen ja nicht in dem Bett schlafen!“
Nach dem Eingriff wurden mir noch ca. 10 Röhrchen Blut abgezapft. Danach lies ich mich bäuchlings auf die Matratze umkippen und schlief sofort ein. Nach einer Stunde erwachte ich. Im Waschraum kotzte ich seltsam schwarzen Schleim aus. Aber danach schien Alles in Ordnung zu sein. Bis Nachts. Im Schlaf träumte ich anscheinend und versuchte, mich von der Nadel  wegzuwenden. Komplett verdreht und mit steifem Nacken erwachte ich schweißgebadet. Dankbarerweise brachte mir die Nachtschwester ein Schmerzmittel.


Geschafft! Meine 2. LP ist erledigt. Es war nicht angenehm, aber auch nicht so schlimm.


Das wirklich Schmerzliche an diesem Klinikaufenthalt war die Begegnung mit zwei Mitpatientinnen. Zum einen meine Zimmernachbarin, zum Anderen eine junge MS-Patientin vom Nachbarflur. Die Begegnung mit ihnen fühlte sich an wie ein Blick in die Zukunft und in die Vergangenheit.
Meine Zimmernachbarin: Mechthild, Mitte 60, fortgeschrittene Parkinson-Erkrankung, eigenwillig und eloquent.
Die junge MS-Patientin: Linda, Mitte 20, MS-Diagnose seit zwei Monaten, flippig und unbekümmert.

Dank Mechthild habe ich Einiges über Parkinson gelernt. Bislang dachte ich, Parkinson-Patienten zucken und zittern einfach nur. Mittlerweile weiß ich, dass diese Krankheit mehr und fiesere Facetten als nur die „Überbeweglichkeit“ hat. Bei Mechthild äußerte sich die Krankheit in unterschiedlichen Phasen, die mehrmals am Tag wechselten. Kam sie mir in der einen Stunde ganz normal vor, war sie in der nächsten Stunde komplett wesensverändert. Machte Dinge, an die sie sich in klaren Momenten nicht mehr erinnern konnte und für die sie sich teilweise schämte.
In den klaren Momenten führten Mechthild und ich recht intime Gespräche über die Begleiterscheinungen unserer neurologischen Erkrankungen: Inkontinenz, kognitive Einbußen, Wut auf körperliche Defizite und daraus resultierende Aggressionen. Obwohl Mechthild knapp dreißig Jahre älter ist als ich, gab es viele Vergleichbarkeiten. Und genau deswegen schürte die Begegnung meine Angst davor, wo es mit mir noch hingehen wird.
Eine traurig-komische Situation möchte ich in Erinnerung behalten:
Wegen meiner Nebendiagnose RLS (Restless Legs Syndrom) nehme ich täglich ein Medikament. Dieses ist eigentlich ein Parkinson-Medikament, das allerdings schon seit Jahren zur Behandlung von RLS eingesetzt wird. Bei mir wirkt es meistens gut. Allerdings nicht immer. Gelegentlich zucken meine Beine dennoch heftig. So auch am Vormittag meines zweiten Kliniktages. Mechthild und ich standen in unserem Patientenzimmer. Sie hatte eine Phase der "Überbeweglichkeit", meine Beine zuckten heftig. Beide konnten wir nur stehen bleiben, indem wir uns an dem Interieur festhielten. Mir gelang eine kurze Außensicht auf die Szene aus zuckenden Körpern und musste lachen.
„Fühlt sich das für dich auch grad so bescheuert an?“
Traurig weiß ich, dass Mechthild sich wohl nicht an diesen Moment erinnern kann, ihn vermutlich nicht mal bewusst wahrgenommen hat.

Linda lernte ich während des Rauchens auf dem Klinikgelände kennen. Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Wenn ich während meines 2-tägigen Klinikaufenthaltes das Gefühl von Lagerkoller bekam, rollte ich auf den Nachbarflur zu Linda. Mit ihr konnte ich lustige Gespräche führen. Über normale Dinge. Aber natürlich sprachen wir auch über MS. Erst seit zwei Monaten hat Linda ihre MS-Diagnose. Dagegen komme ich mir mit meiner über 12-jährigen MS-Karriere vor wie ein alter Hase. Lindas Einstellung gegenüber ihrer MS erinnert mich daran, wie es bei mir Anfangs war: Eine innere Sperre gegen Medikamente; Unfähig, die zeitliche Dimension der Krankheit zu erfassen; Erste Einschränkungen mit Humor herunterspielend. Linda wirkte auf mich jung und erfrischend unbekümmert. So als mache sie sich keine Sorgen, habe keine Angst vor ihrer MS-Karriere. Ich hingegen habe mir im Laufe meiner MS-Karriere eine derbe Art angeeignet, um diese Angst zu kompensieren.
Bestes Beispiel: Meine 2. LP.
Medizinisch erklärt: Vor dem Beginn meiner neuen Eskalationstherapie wird der Liquor auf typische Marker untersucht, deren Vorhandensein während der Therapie die tödliche Erkrankung PML (Progressive multifokale Leukenzephalopathie) auslösen würden und somit gegen den Beginn dieser Eskalationstherapie sprächen.

Anja-typisch erklärt: Die Ärzte untersuchen mein Nervenwasser, um zu checken, dass ich mit dem neuen Medikament nicht abkratze.  

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