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Meine Erkenntnis

 

 Achtung: sperrig!


In der ersten und dritten Oktoberwoche habe ich mit meiner neuen MS-Basistherapie begonnen. Die Infusionen selbst waren anstrengend, der jeweils erste Tag danach auch. Aber seitdem fühle ich mich körperlich großartig. Ich bin wieder leistungsfähiger und ausdauernder. Nicht jede Kleinigkeit ist permanent zu viel. Auch mein Hirn ist wieder für Aufnahme bereit. So zog ich zum Beispiel während eines Arztbesuches im Wartezimmer nicht irgendein Klatschblatt der Regenbogenpresse raus, um Rezepte durchzublättern. Stattdessen las ich einen Artikel über die vermeintlich sozialliberale Einstellung von M. Foucault.
Dennoch: Das, was während meiner bisherigen MS-Karriere im Zentralen Nervensystem bereits kaputt gegangen ist, bleibt kaputt. Somit sind bei Müdigkeit und Erschöpfung ab nachmittags kaum noch kognitive Leistungen möglich. Physisch gibt es auch enge Grenzen. Zum Beispiel kann ich mittlerweile nicht mehr sehr lange stehen - meistens nicht mal für die Dauer einer Zigarette.

Anfang der Woche war ich einkaufen. Und dabei habe ich mich selbst sauber überschätzt. Eine Stunde lang die Zutaten für die diesjährige Plätzchen-Back-Orgie einzukaufen, überstieg meine körperliche Ausdauer bei Weitem. Trotzdem ich die Hilfe meines 7-jährigen Sohnes hatte. Im zweiten Geschäft konnte ich kaum noch aufrecht Richtung Kasse gehen. Die Schlange an der Kasse war gefühlt riesig. Vor uns standen drei Saftschubsen, die uns auf Anfrage vorließen. Der Kunde, der dann noch vor uns an der Reihe war, glotzte unverhohlen. Er bekam kaum die Münzen in seinem Geldbeutel sortiert, so angestrengt schaute er mir zu. Ich klammerte mich an Allem möglichen fest, um stehen bleiben zu können. Gleichzeitig vermied ich es tunlichst, mich umzusehen. Die Blicke der anderen Kunden waren ohnehin zu spüren.
Obwohl mich die drei Saftschubsen an der Kasse vorgelassen hatten, verließ ich nach Ihnen das Geschäft. Sie standen auf dem Vorplatz und rauchten. Ihre Blicke taten mir besonders weh. Mitleidig, ab- und zugleich ausgrenzend.

Alles in Allem fühlte es sich wie eine heftige Demütigung in der Öffentlichkeit an. Warum? Eigentlich habe ich es schon des Öfteren erleben müssen, angeglotzt zu werden. Auch des Öfteren passiert es mir, dass ich selbst meine Grenzen überschreite. Warum also tat mir dieses Einkaufserlebnis emotional so weh?
Weil die Kongruenz fehlt! Als Germanistin weiß ich, dass Kongruenz im ursprünglichen Sinne die Übereinstimmung von Verb, Adjektiv und Substantiv in Geschlecht, Fall und Singular/Plural bezeichnet. Im übertragenen Sinne: Die Übereinstimmung meiner Behinderung und meiner Person. Das passt manchmal für mich selbst und fast immer für die Mitmenschen nicht zusammen. Auf den ersten Blick sehe ich nicht sehr behindert aus. Im Gegenteil: Ich sehe gut aus. Für Außenstehende scheint das nicht zusammenzupassen. Unglaublich oft schon habe ich den Satz gehört: „Ach herrje, so eine hübsche junge Frau“. Anmaßend behaupte ich, dass ich den drei Saftschubsen im Aussehen in Nichts nachstehe. Und genau wie sie bin auch ich Raucher. Aber eben behindert.
Die drei Saftschubsen und ich gehören der gleichen Generation an. Allerdings sind sie erwerbstätig, ich bin frühverrentet.
In der Situation im Einkaufsladen und an der Kasse war ich selbst kaum meiner Kräfte mächtig. Trotzdem schaffte ich es, ein Auge auf mein Kind zu haben und es zu beschäftigen. Das wurde von den Mitmenschen ebenfalls ungläubig beäugt.
Und wieder fällt mir M. Foucault ein. Dessen Diskurstheorie zielt auf die gesellschaftliche Konstruktion von Wissen durch Ausschließungsprozeduren. Diese lassen sich in dem genannten Moment allerdings nicht auf mich anwenden. Auf Grund meiner Behinderung und Einschränkung falle ich zwar aus den Normen der anderen Kunden raus. Aber obwohl ich offensichtlich stark eingeschränkt bin, nehme ich dennoch am gesellschaftlichen System teil (das Einkaufen) und trage zur Erhaltung eben dieses gesellschaftlichen Systems bei (die Erziehung meines Sohnes).
Für die Mitmenschen ist meine Person nicht einfach zu erfassen. In viele Normen passe ich nicht hinein. Ich sprenge normative Diskurse. Meine Existenz ist für Mitmenschen so sperrig wie dieser Text für potenzielle Leser sein wird.

Mir selbst fällt diese fehlende Kongruenz ebenfalls schwer. Jetzt, mit dem fitten Gefühl  durch das neue MS-Basismedikament, habe ich mich schon des Öfteren überschätzt. Meine Selbstwahrnehmung driftet ab von meiner Leistungsfähigkeit. Wiederum muss ich mein Selbstbild überarbeiten. Muss die Position markieren, an der ich mich gerade befinde. Dabei kommt mir die kulturwissenschaftliche Theorie des Konstruktivismus zu Hilfe. Darin wird die Wirklichkeitskonstruktion benannt. Zwar gibt es eine objektive Realität, allerdings ist diese nicht subjektiv wahrnehmbar. Vielmehr konstruiert jeder Mensch selbst seine Welt immer nur subjektiv und ausschnitthaft. Laut konstruktivistischer Definition gibt es zwei Wirklichkeiten: zum einen die Wirklichkeit, die uns von unseren Sinnesorganen vermittelt wird; zum anderen die Zuschreibung von Bedeutung, Sinn und Wert. 
Bezogen auf mein Einkaufserlebnis: Die Mitmenschen in dem Geschäft nehmen mich mit meinen körperlichen Defiziten wahr. Gleichzeitig passe ich nicht in die Norm einer jungen Mutter. Vielmehr bleibt ungewiss, welche Bedeutung und welcher Sinn mir von Außen zuzuschreiben ist. Diese Unklarheit mündet sodann in ein Absprechen der persönlichen Fähigkeiten.
Laut P. Watzlawick ist es allerdings unmöglich zu sagen, wer Recht und wer Unrecht hat. Welche Wahrnehmung ist die richtige? Also versuche ich nicht länger in normative Diskurse zu passen, sondern konstruiere meine eigenen Normen. Anstatt mich zu verbiegen und unbedingt in Diskurse hineinpassen zu wollen, versuche ich mein eigenes Tun und Können wertzuschätzen. Ein großer Schritt für mich!
 

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