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Mein Matsch-Auge

2008. Ich hatte grad meine erste Kortison-Stoß-Therapie und eine zweiwöchige Reha hinter mit. Mit dem Zug fuhr ich gen Norden und war zu Besuch bei meiner besten Freundin. Wir saßen in ihrer WG-Küche: Rauchen, Plaudern, Wiedersehensfreude. Dann kam ein WG-Mitbewohner in die Küche geschlappt. Er besah mich und fragte:

„Was’n mit deinem Auge los?“
„Weiß nicht. Ist wohl müde.“
Mein linkes Auge war komplett geschlossen. Nur mit Mühe konnte ich es öffnen. Also ließ ich das Lid hängen. Leider konnte ich so dem WG-Mitbewohner keine schönen Augen machen. Aber nach circa zwei Stunden gemütlichen Plauderns in der WG-Küche waren beide Augen wieder offen und blickten in die Welt. Mir gingen sprichwörtlich die Augen auf. Ich war wieder ganz Auge und Ohr.

Seit damals ist dieses Symptom schon etliche Male aufgetreten. Nach großer Anstrengung und bei Erschöpfung schließt sich mein linkes Auge. Das Einzige, was dann hilft, ist viel Ruhe. Danach ist alles wieder normal - zumindest augenscheinlich.
Mein Matschauge ist nach Außen ein sehr deutliches Symbol. Daran merkt selbst der unsensibelste Mitmensch, dass ich durch bin. Wenn mein Körper nichts mehr von Außen aufnehmen kann, fährt er auf diese Weise die Reize runter. Es ist wie ein halbieren der Wirklichkeit. Entsprechend der Devise: „aus den Augen, aus dem Sinn“. Oder sprichwörtlich: „die Augen vor etwas verschließen“.


Mein Matschauge ist befremdlich. In diesen Momenten kann ich die Welt um mich herum nur noch eindimensional sehen. … Seltsam. Aber dennoch hilft diese Körperreaktion der schnelleren Rekreation. Und ich habe mich mittlerweile daran gewöhnt. Einäugig durch-die-Wohnung-gehen klappt inzwischen, ohne dauernd anzuecken. Auch Zigarette-anzünden funktioniert mit halber Sicht.
Im Laufe meiner MS-Karriere habe ich gelernt, gegenüber diesem Symptom ein Auge zuzudrücken: Mit der Zeit bin ich nachsichtig mit meinem schwächelnden Nervensystem geworden. Außerdem weiß ich in Bezug auf dieses Symptom: das Matschauge bleibt nicht, es verschwindet nach einigen Stunden wieder. Im Unterschied zu Karl Dall. Der Mann sieht so aus, wie er aussieht, auf Grund einer angeborenen Lidmuskelschwäche (Ptosis). Einst lernte ich, dass bei Esoterikern das linke als das starke, männliche Auge bezeichnet wird. An dem linken Augenlid also eine Schwäche zu haben … mhhh …
Dann vergleiche ich mich mal besser nicht mit dem bekannten Schauspieler. Stünde mir ohnehin nicht zu.

Klar ist: wenn mein linkes Matschauge da ist, glotzen die Mitmenschen noch unverhohlener. 2017 war ich zur jährlichen Kontrolluntersuchung im MRT. Diese ist für mich immer sehr anstrengend. Dort muss ich circa 30 Minuten bewegungslos auf dem Rücken liegen. Danach ist mein Körper fix und fertig: Mein Gangbild ist spastisch verzerrt und das linke Auge ist komplett geschlossen. Auf dem Weg vom Untersuchungsraum durch die Praxis glotzten mich alle Anwesenden an. Meine Mutter gab mir den Tipp:
„Sag denen: ‚Passen Sie bloß auf. Mich ham se ins Piraten-MRT gesteckt. Danach sieht man so aus wie ich jetzt. Passen Sie auf, dass Sie da nicht reinkommen.' “

Zuletzt hatte ich das Matschauge im Dezember 2018. Der rollende Besuch auf einem überfüllten Weihnachtsmarkt plus das Abendessen in einem überheizten Restaurant war zu viel. Mein Körper rebellierte, indem er viele Funktionen runterfuhr. Halber Augenschondienst war eine der Konsequenzen daraus. Zurück zu Hause war ich unglaublich froh, mit Major Tom in meine Wohnung fahren zu können.
Einäugig ist natürlich kein räumliches Sehen möglich. Das war mir bis dato klar. Allerdings wurde mir erst bei dieser Treppenlift-Fahrt bewusst, wie anders man Geschwindigkeit mit nur einem Auge wahrnimmt. Langsamer als langsam.

Was lerne ich aus diesem Symptom? Seit rund zehn Jahren ist es  mal da und mal weg. Ich habe also nur manchmal (k)einen lichten Augenblick!
 

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