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Meine Sauerei

Als ich ein Teenie war, galt es als P.C., Kosmetik von The Body Shop zu verwenden. Diese Produkte wurden nämlich ohne Tierversuche hergestellt. The Body Shop leistete in Sachen tierversuchsfreie Kosmetik Pionierarbeit. Erstmals sensibilisiert für dieses Thema machte ich da natürlich mit – kaufte die Produkte und erleichterte damit mein Gewissen. Zumal mein pubertärer Versuch, fleischlos zu leben, nach kurzer Zeit gescheitert war. Mit 14 Jahren wollte ich meiner damals besten Freundin zuliebe genau wie sie Vegetarierin werden. Zwei Tage nach meinem Entschluss begann meine Familie den Sommerurlaub in der Türkei. Dort gilt: Fleisch ist mein Gemüse. Also endete mein Vegetarier-Dasein nach insgesamt vier Tagen.

 

Als ich eine Studentin war, sah ich an der Hamburger Binnenalster regelmäßig die Demos von PeTA-Street-Teams gegen Pelze und Tierversuche. Ich demonstrierte dort zwar nie mit, aber grundsätzlich stimmte ich zu. Teils aus Überzeugung, teils aus studentischem Kalkül und Trotz. Zum einen hätte in den Studentenjahren mein Kleingeld ohnehin nicht für teure Kalbsleder-Schuhe gereicht, und Pelzmäntel waren ja einfach mega Omma. Zum anderen konnte ich mit der generellen Ablehnung von Pelzen, Lederwaren und Tierversuchen auch wieder eine Political Correctness zeigen.

 

Als ich eine MSlerin wurde, wendete sich mein Verhalten. Gleich zu Beginn meiner MS-Karriere empfahl mir eine Neurologin, eine Korstison-Stoß-Therapie zu machen und mit einem täglichen Basis-Medikament anzufangen. Dazu war ich damals noch nicht bereit. Ich wollte keine harten Medikamente nehmen. Hatte die Hoffnung, die mir neu diagnostizierte Krankheit mit alternativen Methoden zu behandeln. Da kam mir die Empfehlung eines speziellen Verfahrens der Naturheilkunde entgegen: Frischzellen - zur Steigerung der Immunabwehr. Ich stimmte einer dreitägigen Frischzellentherapie zu. Obwohl mich die Details dieses Verfahrens erschreckten.

 

Bei dieser Therapie wird eine Zellaufschwemmung (Suspension) von fetalen (ungeborenen) oder juvenilen (jungen) Kälbern oder Lämmern injiziert, also Substanzen, die aus Tierföten gewonnen werden.[1]

 

Es tat mir leid um die ungeborenen Lämmer, die meinetwegen umgebracht wurden. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Infolgedessen stellte ich für mehrere Monate den Verzehr von Fleisch ein. Entsprechend der Therapieempfehlung verzichtete ich speziell auch auf Hammelfleisch. Makaber!

 

Durch die Frischzellen-Therapie hatte ich erstmals einen ethisch-moralischen Gewissenskonflikt. Darf ich meine eigene Gesundheit und mein eigenes Wohl über die Gesundheit und das Wohl von Tieren stellen? Ethik bedeutet generell eine innere Gesinnung, Sitte und Lebensführung, die sich aus der Verantwortung des Menschen gegenüber der Schöpfung ergibt. Demzufolge hat jede Ratte, jedes Lämmchen und jedes andere Tier das gleiche Recht zu leben, wie ich selbst.

 

Diese erste Therapie-Erfahrung, meine Abneigung gegen harte Medikamente und die ethischen Gedanken – alles gute Gründe für alternative Heilverfahren. Genauer gesagt: Homöopathie. Generell kommen alternative Heilverfahren ohne Medikamente aus. Zudem: Viele Hersteller von homöopathischen Mitteln lehnen Tierversuche ab.
Allerdings war meine MS gleich zu Beginn recht aggressiv. Keines der Mittel, die mir meine damalige Homöopathin verschrieb, schaffte Linderung oder bremste meinen Krankheitsfortschritt. Die Homöopathin sagte mir nach einem halben Jahr, dass sie leider nichts mehr für mich tun könne; ich solle mich der Schulmedizin zuwenden.

 

Die Entwicklung der meisten Medikamente kommt nicht ohne Tierversuche aus. Und nahezu alle Arzneimittel enthalten Bestandteile tierischen Ursprungs. Das war auch gleich bei meiner ersten MS-Basistherapie der Fall.
Das erste schulmedizinische Medikament zur Behandlung meiner MS war ein Interferon. „
Beta-Interferone werden als Medikamente der ersten Wahl zur Basistherapie der schubförmigen Multiplen Sklerose (MS) eingesetzt.“[2] Das Medikament soll den Verlauf der MS verlangsamen und mildern. Soweit die offizielle medizinische Begründung. Der war ich bereit, mich zu fügen. Die Information auf der Medikamentenpackung ließ mich dennoch erschauern. Dort war zu lesen, dass Interferon beta-1a mithilfe von Säugetierzellen (Ovarialzellen des chinesischen Hamsters: Cho-Zellen) produziert wird. Das Wissen darum fiel mir schwer. Machte mir abermals ein schlechtes Gewissen.
Mitmenschen reagierten häufig mit der Aussage:
‚Naja, bei dir ist das ja was anderes. Das muss ja sein.‘
Dieses beschwichtigende Abwiegeln entspricht dem Solidaritätsprinzip: Die Pflicht, Hilfsbedürftigen und Schwachen und Kranken die bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Zu diesem Prinzip würde ein vollständiges Verbot von Tierversuchen im Widerspruch stehen.
Also sollte ich die Ausnahme, die in meinem Fall gemacht wird, dankbar annehmen? Eigentlich ja. Tatsächlich bleibt das vereinsamende Gefühl, dass ich auf Grund meiner MS mal wieder aus dem Raster normal rausfalle.

 

Seit meinem ersten MS-Basismedikament folgten noch viele weitere. Die Forschung für MS-Medikamente ist rege im Gang. Ständig gibt es neue, Hoffnung versprechende Medikamente. Alle werden in ihrer Erforschung zuerst in Tierversuchen getestet. Zum Beispiel der Wirkstoff Dimethylfumerat (DMF).

 

Die Forscher verwendeten in ihrer Studie ein standardisiertes Mausmodell für Multiple Sklerose. Bei diesem Modell werden Mäuse mit Bestandteilen von Myelin immunisiert. Dies führt bei den Tieren zu neurologischen Ausfällen ähnlich der Multiplen Sklerose.
"Die Mäuse, die wir mit DMF behandelt hatten, konnten sich im Vergleich zur Kontrollgruppe deutlich besser bewegen",
so Wettschureck.
[3]

 

Bei der Beschreibung läuft es mir kalt den Rücken runter. Was ich tagtäglich an Einschränkungen erlebe, wird bei kleinen süßen Mäuschen mit Absicht provoziert, um sie dann eventuell davon zu heilen!? Grausam!!

 

Ungeachtet der mannigfachen MS-Basistherapien blieb meine MS sehr aktiv. Ärztlich empfohlen stieg ich medikamentös auf die Eskalationsstufe. Und dann endlich bekam ich eine Therapie, die mir eine deutliche Verbesserung brachte. Erleichterung! Der Wirkstoff Natalizumab (Tysabri) ist ein humanisierter Maus-Antikörper; die Wirkung beruht auf einem damals völlig neuen Therapieprinzip.
Zu diesem Zeitpunkt meiner MS-Karriere erschrak mich die Information über tierische Bestandteile und/oder Ableitungen schon nicht mehr. Ich hatte mich wohl oder übel daran gewöhnt. Auch meine aktuelle MS-Basistherapie fällt in diese Kategorie: „Ocrelizumab ist ein rekombinanter humanisierter monoklonaler anti-CD20-Antikörper, der in Ovarialzellen des chinesischen Hamsters mittels rekombinanter DNA-Technologie hergestellt wird.“
[4]
Um für mich selbst jedoch eine Entschuldigung zu haben, bediene ich mich dem Begriff der pathoinklusiven Ethik: Die Interessen von Menschen werden unter bestimmten Rechtfertigungsgründen (z.B. menschliche Gesundheit) stärker berücksichtigt als die Interessen von empfindungsfähigen Tieren. 

Um nicht zu sagen: Wat mutt datt mutt!

 

Mittlerweile nehme ich zusätzlich zu meiner Basistherapie diverse Tabletten zur symptomatischen Behandlung meiner MS. Darunter ist auch das Medikament Fampridin (Fampyra), dass zur Verbesserung der Gehfähigkeit von erwachsenen MS-Patienten eingesetzt wird.[5] Dies war anfangs bei mir auch der Fall. Inzwischen habe ich das Gefühl, dass mir das Medikament vor allem für gegen das MS-Symptom Fatigue hilft. Alle zwölf Stunden nehme ich eine Tablette Fampyra. Elf Stunden nach der Einnahme habe ich täglich das Gefühl, sofort im Stehen einschlafen zu können. Sobald ich die Tablette genommen habe, bin ich fit. Wach. Präsent.
Über diese positive Wirkung des Medikamentes auf die Fatigue haben sich schon diverse Patienten in MS-Foren geäußert. Es ist also nicht allein meine subjektive Erfahrung. Umso lustiger fand ich folgende Information (auf die ich erst im Zuge der Recherchen für den vorliegenden Blogartikel gestoßen bin):

 

[] Fampridin, ist ein in der präparativen Chemie häufig verwendeter Katalysator. Fampridin wird bei Haus- und Nutztieren [] als Aufwachbeschleuniger nach einer […] Narkose (»Hellabrunner Mischung«) eingesetzt.[6]

 

 

 

Was gibt es aus Meiner Sauerei zu resümieren?
Im Krankheitsfall stößt eine vegane – oder zumindest tierfreundliche – Lebensweise an ihre Grenzen. Fast alle Krankheiten profitieren in ihrer Behandlung von Medikamenten, die mit Hilfe von Tierversuchen entwickelt wurden. 
Von anderen Krankheiten spreche ich allerdings nicht; ich kann nur über mich und meine eigene Krankheit sprechen. Zudem muss jeder Kranke für sich selbst eine Entscheidung treffen.

Zwar gilt es in den westeuropäischen Normen als akzeptiert und notwendig, dass dem Menschen als höherem Lebewesen auf Kosten von niederen Lebewesen (Tieren) geholfen wird. Die Rede ist dann von ethisch vertretbaren Tierversuchen. Dennoch hinterlässt das Thema bei mir ein Gschmäckle. Meine MS-Karriere wird von Anfang an und wohl auch in Zukunft von dem moralisch-ethischen Dilemma begleitet: Wer ist mehr wert? Ich oder eine Maus bzw. ein chinesischer Hamster?

 

 


[1] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Frischzellentherapie (12.03.2019)

[2] https://de.m.wikipedia.org/wiki/Beta-Interferon (12.03.2019)

[3] https://www.dmsg.de/multiple-sklerose-news/ms-forschung/fumarsaeure-medikament-gegen-multiple-sklerose-wirkmechanismus-entschluesselt/ (12.03.2019)

[4]https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=1&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwjBgOjTtJDhAhUFAGMBHWE5DAcQFjAAegQIBBAC&url=https%3A%2F%2Fwww.ema.europa.eu%2Fdocs%2Fde_DE%2Fdocument_library%2FEPAR_-_Product_Information%2Fhuman%2F004043%2FWC500241124.pdf&usg=AOvVaw2_teLuWfSVGRKUcLHD99vC (20.03.2019)

[5] Vgl. https://de.m.wikipedia.org/wiki/Fampridin#cite_note-FI_Fampyra-3 (20.03.2019)

[6] Vgl. ebd.

 

 

 

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