Meine Großbuchstaben[1]
Vor über 13 Jahren wurden mir vom Arzt zwei Großbuchstaben diagnostiziert: MS.
Was sind Großbuchstaben? Zunächst mal groß. Und bestimmend. Unangenehm aufdringlich fand ich diese großen Buchstaben schon immer. Deswegen habe ich jahrelang am Ende eines Briefes, einer Mail o. ä. nur mit einem kleinen a unterschrieben. Aktuell habe ich allerdings immer mehr Großbuchstaben, die mich prägen. Aber der Reihe nach …
Die ersten Großbuchstaben, die mir diagnostiziert wurden, sind bis heute am prägendsten. Damals schockte mich die Diagnose MS. Aber schon kurz darauf startete ich den humorigen Umgang
mit meiner Krankheit. In Form von Großbuchstaben-Spielereien. Für die Hochzeit eines befreundeten Paares bereitete meine damalige Clique ein Quiz à la WWM vor. Ich schlug folgende Frage
vor:
„Was hat Anja? a) SM b) MS c) SMS d) MMS “
Aber außer mir fand niemand die Frage lustig.
Im Laufe meiner MS-Karriere kamen weitere Großbuchstaben hinzu:
• MRT – die wichtigste Untersuchung, um den Krankheitsfortschritt im ZNS zu visualisieren.
2006 bekam ich die MRT-Aufnahmen noch ausgedruckt - im DIN A2 Format, an Röntgenaufnahmen bzw. Negative erinnernd. Nachdem ich im ÖPNV mehrere Male mit den großformatigen MRT-Aufnahmen gekämpft
hatte, beschloss ich trotzig:
„Nächstes Mal lasse ich Passbilder machen!“
Mittlerweile bekomme ich die (jährlichen) MRT-Aufnahmen auf CD gebrannt. Das ist sehr viel besser zu handhaben.
Anfangs war ich erschrocken darüber, wie hässlich mein Schädel auf den MRT-Aufnahmen aussieht. Mega Glupschaugen! An den Anblick meiner Glupschaugen bin ich inzwischen gewöhnt.
Stattdessen erschreckt mich aktuell der Anblick der schwarzen Löcher in meinem Gehirn. Um das Gefühl der Angst zu kompensieren, habe ich neulich auf Konfrontation gesetzt:
„Na, wie gefällt Ihnen mein Hirn“, lautet meine Frage an den Neurologen, „Möchten Sie vielleicht tauschen?“ Der Arzt hat mein Angebot abgelehnt. Nicht mal dankend. Tsss!
• KG – angefangen, als ich 2007 in FFM wohnte, bis heute aktuell (seit 2012 in Büchenbeuren)
• VEP & SEP – In meiner MS-Karriere habe ich bislang unterschiedlichste Untersuchungen mitgemacht. Auf diese oder jene Weise wird dabei die Leitfähigkeit der Nerven getestet. Was soll ich sagen? Langsam, langsamer, irgendwann am langsamsten. Hoffentlich lässt der Superlativ noch lange auf sich warten.
• LP – Auch das eine wichtige Untersuchung für MSler. Dabei wird die Flüssigkeit, die das ZNS umspült, auf spezielle Bio-Marker untersucht. Vor meiner ersten LP hatte ich keine Ahnung, wie genau die Untersuchung abläuft. Zuvor wurde nur mitgeteilt, dass mir im Krankenhaus Hirnwasser abgezapft und untersucht würde. Mir war unklar, auf welche Art und Weise die Ärzte an mein Hirnwasser kommen würden. Einige Tage lang hatte ich Schiss, dass mir dafür ein Loch in die Schädeldecke gebohrt werden würde. Aber natürlich geschah dies nicht. *lach* [vgl. Meine 2. LP]
• JCV – Im Kontext meiner ersten Eskalationstherapie wurde ich positiv auf das JC-Virus getestet. Eigentlich ist das ein recht weit verbreitetes Virus, für gesunde Menschen
durchaus harmlos. Tatsächlich ist das Virus für mich auf Grund meines künstlich unterdrückten Immunsystems binnen kürzester Zeit tödlich. [vgl. 7 Wochen vor Tysabri]
Also gibt es aktuell die medizinische Gradwanderung, mein Immunsystem soweit runterzudrücken, dass die MS-Aktivität eingeschränkt wird, ich allerdings
nicht hopps gehe.
In meiner MS-Karriere habe ich schon diverse Symptome gehabt. [vgl. von Zufällen und
Symptomen] Trotz dieser jahrelangen Erfahrung deute ich manche körperlichen Veränderungen falsch. So die vermeintliche Spastik.
Tatsächlich ist Spastik eines meiner MS-Symptome. Vorwiegend die Beine betreffend.
Seit ca. 2015 sind die vermeintlichen Spastiken in den Beinen immer heftiger geworden, haben sich vor allem nachts bemerkbar gemacht. Die zuckenden und krampfenden Beine fanden einen ersten
Tiefpunkt während des Rückfluges von einem Barcelona-Trip. Einige Tage später sprach ich mit meinem Neurologen darüber und bat um medikamentöse Hilfe. Zumal die KG-Übungen allein nicht mehr
ausreichten. Der Neurologe fragte einige Details ab und vermutete, dass der Grund für die zuckenden und krampfenden Beine eine andere Krankheit sei: RLS. Diese
drei Großbuchstaben wurden in den darauffolgenden Wochen per Behandlungsdiagnose bestätigt.
Inzwischen habe ich mich an diese zweite Großbuchstaben-Krankheit gewöhnt. Und ich bin medikamentös relativ gut eingestellt.
… aber: kein Stillstand im Alphabet …
Kürzlich kam zu meinen Großbuchstaben erneut etwas hinzu: HPV.
Auch das ist ein weit verbreiteter Virus. Bei Frauen begünstigt er die Entstehung von Gebärmutterhalskrebs. Bei mir wurde in den letzten Monaten drei Mal mittels Abstrich eine Zellveränderung
festgestellt. Als nächstes gilt es, zu klären, ob diese good or evil ist und wieviel davon weggeschnippelt wird.
Die beiden neuesten Großbuchstaben-Ansammlungen in meiner Krankenakte sind eigentlich unabhängig von meiner MS-Karriere. Wenn man eigentlich sagt, gibt es aber
immer auch tatsächlich.
• In Studien wurde belegt, dass Patienten mit MS eine um das Vierfache erhöhte Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung und das Vorlegen eines RLS haben. Aha. Ein Lottogewinn wäre für mich
also unwahrscheinlicher.
• Bei sehr vielen Frauen ist der Körper in der Lage, trotz des HPV selbst gegen die Zellveränderung im Unterleib anzukämpfen und diese zu beseitigen. Mein Körper ist dazu auf Grund des vom
MS-Medikament unterdrückten Immunsystems nicht in der Lage.
Meine Großbuchstaben:
MS - JCV - RLS - HPV
Ich bin nicht allein. Diese Krankheiten und Viren sind jeweils weit verbreitet in unserer Gesellschaft. Dennoch prägen sie mich – Anja (M)S.
[1] Aus Gründen des besseren Verständnisses hier die Auflösung der verwendeten Großbuchstaben:
MS – Multiple Sklerose
WWM – Wer wird Millionär
MRT – Magnet-Resonanz-Therapie
ZNS – Zentrales Nervensystem
KG – Krankengymnastik
VEP – Visuell evozierte Potentiale
SEP – Somatosensibel evozierte Potentiale
LP – Lumbalpunktion
JCV – die Bezeichnung JC-Virus setzt sich zusammen aus den Initialen von John Cunningham; der Patient, bei dem das Virus 1971 erstmals isoliert wurde
PML – Progressive Multifokale Leukenzephalopathie
RLS – Restless Legs Syndrom
HPV – Humane Papillomviren
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