„Berlin - Berlin – ich fahre nach Berlin!“
Das schrieb Anja im Oktober 2022 auf einen Zettel und hielt ihn in die Kamera. Ihre Lieblingspsychologin Franca Cerutti hatte den Gruppenteilnehmern gerade via Zoom eröffnet, dass sie mit ihrem
Podcast Psychologie to go! auf LIVE-Tour gehen wird. Anja wollte an der Auftakt-Veranstaltung in Berlin am Ostermontag 2023 teilnehmen.
In den 6 Monaten, die zwischen Wollen und Machen lagen, gab es diverse Auf und Abs. Anjas Vorfreude auf den Berlin-Trip war riesig, gleichzeitig schien es des Öfteren, als müsste sie ihren
geplanten Trip absagen.
Positiv gestimmt buchte Anja bereits Anfang Januar 2023 sowohl die Hotelübernachtung als auch die Zugtickets.
ABER: Der beantragte Rollstuhl der behinderten Frau ließ monatelang auf sich warten - ohne das neue Hilfsmittel wäre ihr Trip jedoch sehr viel anstrengender. Sie würde viel Hilfe von ihrer in
Berlin lebenden Freundin brauchen.
SCHOCK: Dann kam leider Anjas Freundin, die in Berlin wohnt und mit der sie die Tage dort verbringen wollte, für längere Zeit ins Krankenhaus. Die beiden Frauen verbindet eine innige
Freundschaft: seit der 5. Klasse kennen sie einander und haben einiges zusammen erlebt. Die ohnehin enge Verbindung wurde in den letzten Jahren noch inniger, seit die beiden Frauen 3 (in Worten:
drei) gleiche neurologische Krankheiten haben. [Zufall? Schicksal? Absurdität!]
Anja bezweifelte, ob sie den Trip inne Hauptstadt allein schaffen würde. Aber keine:r der angefragten Freund:inn:en hatte Zeit resp. Geld resp. Lust, Anja zu begleiten. In ihrem Umfeld mehrten
sich die Stimmen, dass sie besser nicht allein nach Berlin fahren solle.
Positive WENDE: Anjas neuer Rolli Forrest Green mit RKV wurde ca. 10 Tage vor der geplanten Abfahrt
geliefert. Die behinderte Frau beschloss allen Widerständen zum Trotz, den 4-tägigen Trip nach Berlin allein zu wagen. Als Motto postulierte sie: Entweder es wird geil oder es wird ‘ne
Erfahrung.
Spoiler Alarm: Es war mega geil!!
Nachfolgend ein Reisebericht, der belegt:
GESCHAFFT! Machen ist wie wollen, nur krasser 😉
VORSPIEL – LOGISTIK – CRIP TIME
Die Entscheidung, den Trip nach Berlin allein zu machen, bedeutete für Anja einen erheblichen Mehraufwand an Vorbereitungen. Dazu war sie zwar bereit, allerdings glühten ihre Synapsen.
Doch im Nachhinein bestätigte sich: wenn es mega geil werden soll, bedarf es eines langen Vorspiels.
Als Erstes erörterte sie im Kopf das Szenario, wie sie im Rolli sitzend ohne Begleitperson ihr Gepäck transportieren würde. Viele theoretische Gedanken dazu und sogar praktische Trockenübungen: im RKV-Rolli sitzend mit leerem Koffer quer durch die Hofeinfahrt, über Bordsteine und hinein in schmale Eingänge. Ergebnis: NEIN!! Das würde nicht klappen. Also buchte Anja den Gepäckservice der Deutschen Bahn. Doch ganz so einfach war das Problem nicht gelöst. Der 4-tägige Trip nach Berlin sollte am Ostersonntag beginnen. An Feiertagen stellt die Bahn (in Kooperation mit Hermes) allerdings kein Gepäck zu. Deswegen musste Anja ihren Koffer bereits an Gründonnerstag in einer Hermes-Station aufgeben. Zugleich informierte sie einen Rezeptionsmitarbeiter des Hotels, dass ihr Gepäck bereits am Samstag vor Ostern eintreffen würde; Anja bat darum, dass ihr Koffer bis zu ihrer eigenen Ankunft am späten Sonntag-Nachmittag sicher verwahrt wird. Für die Rückfahrt buchte sie ebenfalls den Gepäck-Service. Allerdings mit dem Unterschied, dass sie den Koffer nicht selbst in einer Berliner Hermesstation würde aufgeben können; der Koffer sollte am Tag nach ihrer Abreise aus dem Hotel abgeholt werden. Um eine klare Zuordnung zu gewährleisten, fertigte Anja auffällige Gepäckschilder, die an den Koffer gebunden ihren eigenen Namen, den Hotelnamen sowie die verschiedenen Reservierungs-Nummern auswiesen (wobei sie das Schild für die Rückfahrt incl. Kabelbindern in den Koffer packte.)
Apropos packen: Anja schrieb eine Liste, welches Gepäck sie mitnehmen würde. Klamotten, Medikamente, Kulturbeutel, Rolli-Zubehör (z. B. Ladekabel für den RKV), das Geschenk für Franca, Handy & Tablet incl. Kabeln, zusätzliche Hilfsmittel (Gehstock und Leine), … Die Liste enthielt rund 30 Punkte. Diese wiederum teilte die behinderte Frau in „Handgepäck“ und „Koffer“ auf. Welche der aufgelisteten Dinge benötigte sie erst in Berlin, worauf konnte sie in den fünf Tagen vor der Abfahrt nicht verzichten bzw. was benötigte sie während der Fahrt nach Berlin. Und immer hatte Anja auch den Sicherheitsgedanken im Hinterkopf, was wäre, wenn der Koffer verspätet oder gar verlustig wäre.
Nachdem der Koffer endlich gepackt und aufgegeben war, kümmerte Anja sich um ihr „Handgepäck“. Wobei der Begriff „Hand“ insofern irreführend ist, als dass die Hände der behinderten Frau stets für
die Rolli-Greifreifen frei bleiben müssen. Deswegen kaufte Anja einen riesigen Rucksack, den sie an der Rückseite ihres Rollstuhls befestigen und in dessen unzähligen Fächern sie ihr Handgepäck
unterbringen konnte. Vorteil: Alles fand seinen Platz. Mega Nachteil: Anja konnte ihren Rollstuhl nicht mehr zusammenklappen. Das war vor allem deswegen unpraktisch, weil sie geplant hatte, mit
einem Shuttlebus zum Frankfurter Hauptbahnhof zu fahren. Laut Homepage können allerdings nur zusammenklappbare, nicht-elektrische Rollstühle in den Bus geladen werden.
Anja ließ sich nicht entmutigen und telefonierte mit der Busgesellschaft. Dort wurde ihr ein spezielles Rollstuhl-Taxi für die rund 120 km lange Shuttlefahrt angeboten. WOW! Toller Service! Die
behinderte Frau fühlte sich, als würde ihr die Sonne ausm Arsch scheinen ;-)
Die Reise nach Berlin war fast vorbereitet, doch es gab noch einige kleine Dinge anzudenken, die das praktische Handling während der Tour betrafen. Zwar konnte Anja in ihrem großen Rollstuhl-Rucksack Vieles unterbringen, doch kam sie (wenn sie selbst im Rollstuhl saß) nicht an den Inhalt der zig Fächer. Also würde sie ihre Wertsachen (Geldbeutel, Handy, Pippi-Schlüssel, etc.) sowie die Fahrkarten und Reservierungsbestätigungen (für das Rolli-Taxi, die Zugeinstieghilfe und auch für die Hotelübernachtung) in einer Cross-Bag griffbereit auf ihrem Schoß aufbewahren. Für weitere Kleinigkeiten nähte Anja eine kleine Tasche, die sie zwischen den Rollstuhl-Streben hinter ihren Unterschenkeln anbrachte.
Der obige Text beschreibt eine der Facetten der sogenannten CRIP TIME:
„Für manche Dinge brauchen Menschen mit Behinderung mehr Zeit als Menschen ohne Behinderung.“[1]
Es kostete Anja viele Überlegungen und einige Vorbereitungen, noch dazu brauchte es diverse Hilfsangebot-Buchungen, damit die behinderte Frau trotz Handicap ihren Berlin-Trip allein machen
konnte. Vorbei sind die Zeiten, in denen sie unbekümmert paar Klamotten in den Reiserucksack stopfen und einfach losfahren konnte. Tja … Times are changin‘
ANJAS TRIP NACH BERLIN - Erinnerung in multiplen Kapiteln
Nach den langen Vorbereitungen fing Anjas Trip nach Berlin endlich an. Alles klappte wirklich sehr gut– von Anfang bis Ende: Die verschiedenen Unternehmungen, Treffen alter Freunde sowie
Kennenlernen neuer Kontakte, das Wetter, das Essen, …, sogar die „Outtakes“ endeten positiv.
Zwar war Anja in ihren ersten 41 Lebensjahren schon diverse Male zu Besuch in Berlin gewesen, doch dieser 4-tägige Trip allein im Rolli war für die behinderte Frau einzigartig.
Zusammengefasst in diversen Kapiteln soll die Erinnerung an dieses Erlebnis konserviert werden.
GRÖSSENVERHÄLTNISSE
Im Rolli sitzend erlebt die behinderte Frau ihre Umgebung beinahe aus der Frosch-Perspektive: Alles wirkt viel größer; sie selbst kommt sich viel kleiner vor. Da erschien es Anja nur fair, dass
sie während ihres Trips einige Male die Stadt Berlin aus der Vogel-Perspektive wahrnehmen konnte.
Zum Beispiel lag das Rolli-Hotelzimmer im obersten Stock des Gebäudes. Der Blick aus dem Fenster war weit: Hoch über dem lärmenden Geschehen auf dem Kaiserdamm, schwebend über dem Kiez
Charlottenburg.
Noch beeindruckender war der Blick von der Dachterrasse des Humboldt-Forums. Anja konnte die ganze Stadt mit ihren vielen Sehenswürdigkeiten von oben betrachten. Während früherer Berlin-Besuche hatte die behinderte Frau das meiste bereits aus nächster Nähe betrachtet und erlebt. Dieses Mal stand Anja zusammen mit Forrest Green quasi über den Dingen. Beobachtete die Realität von oben. Fast unbeteiligt und doch dabei. Wie Vieles in ihrem Leben. Aber Anja grämte sich nicht darüber, sondern war froh, es mit eigenen Augen live zu sehen.
Auf dem Weg mit dem Fahrstuhl zur Dachterrasse des Humboldt-Forums waren umgekehrte Größenverhältnisse der Fall: Neben der riesengroßen Aufzugtür wirkte Anja fast winzig.
Ähnlich dem Eindruck, den die behinderte Frau im Berliner Hauptbahnhof bekam. Am Abreisetag fuhr Anja mit der U-Bahn zum Hbf und war bereits auf dem Bahnsteig überwältigt von der Menschenmenge
dort. Nach einigem Suchen fand die behinderte Frau einen Aufzug, mit dem sie auf die Ebene mit der Eingangshalle fahren konnte. Anja drückte den Knopf und wartete. Und wartete. Und wartete. Durch
die gläserne Einfassung konnte sie in den Aufzugschacht blicken. Die Drahtseile schienen sich zu bewegen. Aber dennoch kam kein Aufzug. Also tat sie, was 87% der Menschen tun, wenn sie auf einen
Aufzug warten, der nicht kommt: sie drückte den Knopf noch zwei weitere Male. Nichts passierte. Gerade als die behinderte Frau die Bremsen ihres Rollis löste, um einen anderen Aufzug zu suchen,
kam die Kabine. Sofort waren um Anja herum noch viele weitere Menschen. Die Aufzugtüren gingen auf und eröffneten einen sehr großen Raum. Darin standen bereits zwei Kinderwägen mit Eltern und
weiteren Kleinkindern sowie mehrere Fahrgäste mit großen Koffern. Dennoch passten Anja und Forrest problemlos dazu. Fast geschafft – wenn da nicht die riesige Tafel mit Knöpfen wäre, auf
der man den Ausstieg wählen musste …
Als Anja endlich in der Eingangshalle des Hauptbahnhofs war, fuhr sie zum DB-Servicepoint, um sich bei der Mobilitätszentrale für die gebuchte Einstiegshilfe zu melden. Unzählige Menschen waren
in der Eingangshalle unterwegs. Der Geräuschpegel war enorm. Ebenso die visuellen Reize. Da war es sehr beruhigend, als eine Bahnmitarbeiterin Anja mit einer warmen Stimme namentlich begrüßte und
sagte: „Ich bringe Sie zu ihrem Zug.“ Anja gestand der Frau, dass sie sich leicht überfordert fühle. Nach dem vier-tägigen Besuch in Berlin sei sie nun auf dem Heimweg in ihr kleines Dorf. „Heute
Morgen habe ich mindestens schon fünfmal so viele Menschen gesehen, wie in meinem Dorf wohnen.“
Angeblich kommt es auf die Größe nicht an. Anja ist allerdings der Meinung, dass diese nicht gänzlich unerheblich ist!
SPECIAL MOMENTS
Anja mag das Stadt-Leben. In ihrem Verständnis setzt es sich aus ganz vielen, einzelnen Teilchen zusammen. Alles kann und nichts muss dazugehören.
Seit dem Moment, als sie in der Stadt ankam, sog die behinderte Frau alle Eindrücke (Teilchen) gierig auf. Das Stadt-Leben war so bunt und divers, dass sie sich sogleich zugehörig fühlte. In den
vier Tagen stellte Anja immer wieder fest, wie offen und zugleich wie anonym das Leben dort sein konnte.
Mit dem Nachtportier des Hotels, ein aus Aserbaidschan stammender, junger Mann, verstand sie sich auf Anhieb gut. Jeden Abend, wenn sie das Hotel verließ und wenn sie spät abends wieder
zurückkehrte, hielten die beiden einen kurzen Plausch. Fast vertraut.
Andere Momente waren isoliert, fast nur für Anja wahrzunehmen. Als sie am ersten Morgen in Berlin früh aufwachte, zog sie eilig Jacke und Schuhe an. Die behinderte Frau fuhr mit Forrest
runter vor das Hotel, um eine Morgenkippe zu rauchen. Es war 6:45 Uhr, die ersten Sonnenstrahlen kitzelten schon an diesem Ostermontag. Die Straße vor dem Hotel schien noch zu schlafen: es gab
nur wenig Verkehr und noch weniger Passanten. Alles schien ruhig und friedlich. Dann sah Anja ein Auto des Ordnungsamtes halten; ein uniformierter Mitarbeiter verteilte Knöllchen.
Nach ihrem ersten kompletten Tag in Berlin war Anja mega erschöpft, als sie spät abends ins Hotel zurückkam. Aber mehr als die Anstrengung wog das Glücksgefühl über die unzähligen schönen
Eindrücke und Erlebnisse. Sie hatte alles geschafft, was auf ihrem Plan stand. Und darüber hinaus waren auch die Zwischenräume mit Unvergesslichem ausgefüllt. In ihrem Kopf begannen sich die
Bilder des Tages in wertvolle Erinnerungen zu formieren.
Anja war viel zu aufgeregt, um gleich ins Zimmer zu fahren. Sie kaufte sich am Automaten in der Hotel-Lobby eine Flasche Radler. Da die behinderte Frau schon seit Monaten keinen Tropfen Alkohol
mehr getrunken hatte, schoss die Bier-Limonaden-Mischung unverzüglich vom Gaumen ins Hirn. Anja tanzte lächelnd mit ihrem Rolli durch die Hotel-Lobby.
Am späten Dienstagnachmittag regnete es. Bevor Anja sich für ihre abendliche Verabredung umziehen und aufhübschen wollte, fuhr die behinderte Frau abermals runter vors Hotel, um eine Zigarette zu
rauchen. Während sie rauchend vor der Hoteltür saß, beobachtete sie den Regen. Und einen jungen, gut gekleideten Mann, der barfuß und seelenruhig durch die Pfützen auf dem Kaiserdamm ging. Anja
war beeindruckt von dieser Eigenheit. Und davon, dass sich niemand daran störte.
Am späten Abend war Anja es selbst, die eben jene städtische Offenheit für Individualität nutzte. Nachdem sie ihren Koffer gepackt und ihr Handgepäck geschnürt hatte, fuhr die behinderte
Frau mit Kopfhörern auf den Ohren vor das Hotel und rolli-tanzte auf dem Bürgersteig.
ESSEN … UND MEHR
Egal wann, was und wo … das Essen während ihres Trips nach Berlin hat Anja in bester Erinnerung. Die behinderte Frau genoss es, von dem Hausfrauen-Zwang kurz zu pausieren und verschiedenste kulinarische Leckereien zu genießen. Sich bedienen und bekochen zu lassen.
Am ersten Abend verabredete sie sich mit dem Partner ihrer Berliner Freundin zum gemeinsamen Essen im türkischen ASUDE Restaurant. Das Angebot auf der Speisekarte überstieg das in ihrem heimischen Dönerladen um ein Vielfaches. Die Beiden aßen Karisik Salata mit Lavas, Iskender Kebap und Yogurtlu Kebabi. LECKER!
Morgens versorgte Anja sich in Sophie’s Café & Backshop, das schräg gegenüber des Hotels lag. Obwohl sie ein wahrer Frühstücksmuffel ist, kaufte sie für den (Vor-)Mittag leckerste Pide und
Börek. Mit diesem Proviant im Rolli-Rucksack konnte der Tag jeweils beginnen.
Am nieseligen Dienstagnachmittag legte Anja sich mit frischen Erdbeeren und süßem Mohnkuchen ins Hotel-Bett. Dazu etwas mediale Unterhaltung ;-)
Zum krönenden Abschluss verabredete sie sich abermals mit dem Partner ihrer Freundin im persischen Restaurant NAARDOUN. Bei diesem Ma(h)l gab es Djudje und Fessenjoun. Das Essen und der Chai (mit
Assalam😉)
waren köstlich!
Ebenso wie das Essen genoss Anja es, kleine Dinge in der jeweiligen Sprache zu sagen. Begrüßung, Dank und Verabschiedung konnte sie sowohl auf Türkisch als auch in Farsi äußern. Und meist ergab sich aus diesen kurzen Äußerungen ein wohlwollendes Gespräch. Darüber, woher Anja die Sprache kenne. Und woher sie komme. Was sie in Berlin mache. Etc. pp. Die behinderte Frau genoss diese kurzen Kontakte sehr. Zumal es in ihrem Alltag zu viele Tage gibt, an denen sie (fast) kein Gespräch und keinen Kontakt mit anderen Menschen hat. Dabei ist sie eigentlich ein kommunikativer, offener Mensch. Aber: die Kehrseite des Frührentner-Seins und die MS-Schranken bewirken oftmals Alleinsein.
PIMP IT GREEN
Der Volksmund sagt: Wenn Engel reisen, lacht der Himmel. Das galt (überwiegend) auch für Anjas Berlin-Trip. Die weiten und unbekannten Wege in der Stadt sowie der noch ungeübte Umgang mit dem
neuen RKV-Rollstuhl waren für die behinderte Frau bei trockenem Wetter besser zu meistern.
Viele Sonnenstrahlen und milde Frühlingstemperaturen sorgten bei Anja zusätzlich für gute Laune. Dazu passte ihr neuer, grüner Rolli hervorragend. Aus Übermut wollte sie aber noch mehr: Pimp It
Green! Am Hauptbahnhof kaufte sie sich zwei große, grüne Monstera-Blätter und befestigte diese an ihrem Rolli Forrest Green. Plus eine grüne Sonnenbrille für sich selbst.
So ausstaffiert fuhr Anja durch die Eingangshalle des Berliner Hbf und blieb verwundert stehen. „Wow -der hat ja wirklich ein riesengroßes Objektiv!“ Die behinderte Frau beobachtete neugierig
einen Fotografen, der Fotos von einer LED-Werbetafel machte. Die Motive auf der digitalen Tafel wechselten im Minuten-Takt. Anja konnte nicht erkennen, welche der Werbungen von dem Fotografen
abgelichtet wurden. Ganz zu schweigen von dem Sinn.
Dennoch: just als der Fotograf fertig war und sein Equipment einpacken wollte, fragte Anja frech: „Darf ich auch auf das Foto?“
Der Fotograf war zuerst erstaunt, hielt es dann allerdings für eine gute Idee. Er erklärte ihr, dass er Fotos von einer Werbung des WWF mache. Die Umweltorganisation zeige aktuell in der
Kunstausstellung Climate Realism, „was das Überschreiten der international vereinbarten
1,5°C-Grenze für unsere Zukunft bedeutet. Anhand von Künstlicher Intelligenz (KI), welche die Werke historischer Künstler:innen verändert, zeigt sie, wie die Welt aussehen könnte, wenn globale
Durchschnittstemperaturen um mehrere Grad steigen.“[2]
Die Bilder auf der digitalen Werbetafel zeigten einige der durch KI bearbeiteten klassischen Gemälde.
Beispielsweise Van Goghs Weizenfeld mit Zypressen, das sich auf Grund der Klimakrise bis zum Ende des Jahrhunderts in eine Dürrelandschaft verändert haben wird.[3]
Anja fand die neuartige Sichtweise des Themas sehr gut, die Beschäftigung damit sehr wichtig. Und der Fotograf überlegte, dass es ein positiv-irritierendes Motiv sei, wenn eine behinderte
Frau im grasgrünen, mit Blättern geschmückten Rollstuhl die Dürrelandschaft auf der Werbetafel betrachtet.
TAKEOUTS
Der Trip nach Berlin war rundum positiv. Zwar gab es einige Situationen, die brenzlig waren oder fiese Folgen hätten haben können. Aber immer haben sich diese Momente positiv gewendet. Und spornen damit Anjas Selbstvertrauen nachhaltig an!
Für ihren ersten Vormittag in der Hauptstadt hatte Anja sich ein Zeitticket für den Besuch der Dachterrasse des Humboldt-Forums gebucht. Der Blick von dort oben auf die Stadt sei fantastisch.
Zudem konnte die behinderte Frau dadurch Vieles von der Stadt sehen, was ansonsten ob ihres Handicaps sehr zeitintensiv und anstrengend gewesen wäre. [Stichwort: Crip-Time]
Den Weg vom Hotel zum Humboldt-Forum mit öffentlichen Verkehrsmitteln hatte Anja sich via Google Maps und Streckenplan rausgesucht. Zusätzlich die Abfahrtszeit kalkuliert. Positiv gestimmt und
voller Unternehmungslust machte sie sich morgens auf den Weg. Doch schnell merkte sie, dass sie keine Routine mehr darin hatte, sich innerhalb einer Stadt zu bewegen. Erstrecht nicht mit dem
Rollstuhl. Die U-Bahn, die sich die behinderte Frau zeitlich passend herausgesucht hatte, war nicht rollstuhlgeeignet. Sprich: es war ein altes U-Bahn-Modell, deren Einstieg in die Wägen zu hoch
war, als dass Anja sie mit ihrem Rollstuhl selbst hätte bewältigen können. Zum Glück halfen nette Mitfahrer, die behinderte Frau samt Rollstuhl in die Bahn rein und raus zu heben.
Auf dem U-Bahnsteig nahe des Humboldt-Forums angekommen, blickte Anja von rechts nach links und überlegte, welchen Ausgang sie nehmen müsse. Bevor der Gedanke zu Ende gedacht war, kamen zwei
Personen auf sie zu und grüßten sie freudig wie eine gute Bekannte. Die behinderte Frau blickte verwirrt und fragte: „Guten Tag, kennen wir uns?“ „Wir haben doch gestern im Zug am gleichen Tisch
gesessen.“ Ach ja! Sie erinnerte sich an die beiden: Vater (Mitte 40) und Tochter (knapp volljährig). Die beiden waren ebenfalls mit dem DB-Sprinter von Frankfurt nach Berlin gefahren. Allerdings
hatte Anja sich, entgegen ihrer sonst kommunikativen Art, nicht mit den beiden unterhalten, da sie sich via MP3-Player das neuste Buch von Franca Cerrutti anhörte. Der Vater erklärte jetzt: „Sie
sind leider an einer der wenigen Stationen der Linie U2, die keinen Aufzug hat.“ „Ach Shit, das habe ich nicht bedacht!“ Anja schlug sich gedanklich vor die Stirn. Doch die beiden boten
unkompliziert an, den Rolli die Treppen hochzutragen. Damit die beiden Helfer es nicht noch schwerer hatten, stand sie auf und hangelte sich langsam zu Fuß am Handlauf der Treppe hinauf. Oben
angekommen verabschiedeten sich Vater und Tochter als Bald. Und Anja war wirklich dankbar für das gute Ende dieser ersten U-Bahn-Fahrt! Mit viel Hilfe von Unbekannten und dem überraschenden
Wiedersehen einer flüchtigen Bekanntschaft in einer Stadt mit 4 Millionen Einwohnern!
In dem Berliner Kiez, in dem Anja während ihres Trips wohnte, sind nur wenige Bürgersteige abgesenkt. Zudem sind die Ampeln so kurz geschaltet, dass die behinderte Frau große, vierspurige Straßen meist nur in zwei Etappen überqueren konnte. Auf der Straße stehend und versuchend, mit dem Rollstuhl auf den Gehweg hochzukommen, während die Autos auf sie zufuhren, sorgte einige Male für Adrenalin-Stöße. Tagsüber waren jedoch meistens Passanten hilfsbereit. In der nächtlichen Dunkelheit, wenn nur wenige (und fast keine vertrauenswürdigen) Menschen auf der Straße waren, benutzte die behinderte Frau die Übergänge an den Radwegen.
Hinderlich und für Rolli-Fahrer sehr schwer zu handeln sind Brandschutz-Türen in öffentlichen Gebäuden. Das hatte Anja bereits bei vorherigen Unternehmungen mit dem Rollstuhl erlebt – egal ob
Stadt oder Land. Insofern ist sie stets dankbar, wenn ihr nicht elektrisch zu öffnende Türen aufgehalten werden.
Die Rezeptionsmitarbeiter im B&B-Hotel Charlottenburg standen jeweils von dem der Eingangstür gegenüber liegenden Tresen auf, um der behinderten Frau diesen Service zu offerieren. Prima! Aber
auch da gab es ein einprägsames Erlebnis: Dienstagsnachmittags fuhr Anja aus ihrem Hotelzimmer mit dem Aufzug runter, um vor dem Hotel eine Zigarette zu rauchen. Als sich die Aufzugstüren
öffneten, sah sie, dass die beiden Flügel der schweren Eingangstür offenstanden. Sie freute sich, ohne Hilfe und Gemurkse an die Luft fahren zu können. Vom Aufzug aus führte der Weg gerade aus
durch die Hotellobby, auf der rechten Seite befand sich die Rezeption und links gegenüber war die Eingangstür. Anja fuhr mit Forrest mittig durch die Lobby und sah, weshalb die Tür
aufgestellt war: Ein großer Wäsche-Trolley mit frisch gewaschener Wäsche wurde angeliefert. Anja fuhr etwas weiter auf die Seite der Rezeption, um Platz zu machen. Doch je näher sie am Rand der
Rezeption entlangfuhr, desto näher wurde der Wäsche-Trolley dorthin gelenkt. Alles ging sehr schnell. Die behinderte Frau konnte mit ihrem Rolli nicht wenden und nicht mehr ausweichen. Sie rief
laut „Stopp!“. Doch der Wäsche-Trolley kam immer näher und wirkte riesengroß. Als der Aufprall unausweichlich schien, riss Anja die Arme hoch und hielt die Hände schützend vors Gesicht. Im
letzten Moment erfasste der Rezeptionist die Situation und schrie laut auf. Der Wäsche-Lieferant riss den Trolly rum. …
Herzrasen kann nicht gemäht werden.
YOU ARE NOT ALLONE
Obgleich Anja ihren Trip allein begonnen hatte, war sie während diesen vier Tagen nie einsam. Unzählige Gespräche, sehr schöne Verabredungen sowie alte und neue Kontakte waren das i-Tüpfelchen auf Anjas Berlin-Tipp.
Bereits die Unterhaltung mit dem Fahrer des Rolli-Taxis nach Frankfurt war sehr unterhaltsam (Thema war Anjas Buch über die Verrufene Zeit in Lautzenhausen; der aus dem Hunsrück stammende
Fahrer konnte noch einige Anekdoten beisteuern).
Auch mit den DB-Mitarbeitern, die für den Mobilitätsservice zuständig waren, unterhielt sich die behinderte Frau gerne. Immer konnte man noch etwas Neues dazu lernen. Und die Wartezeit angenehm
verbringen.
Am Berliner Bahnhof Südkreuz angekommen wurde Anja von einem in Berlin lebenden Freund begrüßt und abgeholt. Die beiden verabredeten sich zum gemeinsamen Abendessen. Dieses war gespeist von
türkischen Spezialitäten und viel Eloquenz der beiden Freunde.
Das gleiche Duo traf sich an Anjas letztem Abend in Berlin, um abermals zusammen zu essen. Auch dazu gab es Chai sowie angeregte Gespräche.
Auf der Dachterrasse des Humboldt-Forums genoss Anja im Sonnenschein den überragenden Blick über die Stadt Berlin. Die Terrasse ist sehr groß: rund um den in der Mitte gelegenen Gebäude-Block
kann man von vier Balustraden aus in alle Himmelsrichtungen blicken. Kleine Schilder benennen die Sehenswürdigkeiten.
Beim Blick über die erste der vier Balustraden sah Anja jedoch ein Gebäude, dessen Bestimmung sie nicht nachlesen und erahnen konnte. Kurz entschlossen wendete sie sich an zwei ältere Frauen,
deren Gesprächsfetzen und Gesten sie als ortskundig auswiesen. Erfreut beantworteten die beiden Frauen sogleich die Frage. Zusätzlich gaben sie Anja weitere interessante Informationen. Die drei
Frauen hielten einen angeregten Plausch, der weit über die erste Frage hinausreichte. Es waren zwei Schwestern; Mitte und Ende 60 Jahre alt; in Berlin geboren und aufgewachsen. Nach einiger Zeit
bedankte und verabschiedete Anja sich, um an die zweite Balustrade zu fahren.
Von dort hatte sie einen guten Blick auf das Brandenburger Tor, das Reichstagsgebäude, …, … Während sie ihren Blick schweifen ließ, kamen die beiden Schwestern und zeigten der behinderten Frau,
dass sie von der Dachterrasse aus bis in den Grunewald blicken konnte. Und gaben ihr noch einen Tipp zum Besuch eines besonderen Marktes mit wunderschönen DIYs und Kunsthandwerk-Gegenständen. Das
Gespräch war sehr nett und wirklich lehrreich. Wiederum bedankte und verabschiedete Anja sich, um an die dritte Balustrade zu fahren.
Egal, ob Nord, Süd, West oder Ost … der weite Blick über Berlin war erhebend.
An der vierten Balustrade angekommen, erblickte Anja die beiden Schwestern und wandte sich erneut mit einer Frage an sie.
„Kann ich von hier oben auch bis Gröpelingen sehen?“
Die beiden Frauen blickten verwirrt. Ratlos. Anja musste peinlich berührt lachen.
„Ach nein. Andere Stadt - anderes Stadt-Viertel mit „Gr“ am Anfang. Ich meine Gropiusstadt. Dort war ich vor Jahren mal live und möchte es jetzt gerne von hier oben wiedersehen.“
Das Leben ist nicht fair und nicht vorhersehbar. Anja vermisste ihre Freundin, mit der sie eigentlich die Zeit in Berlin hatte verbringen wollen. Die Klinik, in der sich ihre BFF seit Wochen
befand, war aber zu weit außerhalb der Stadt, als dass Anja mit Öffis oder Taxi dort hätte hinfahren können. Als Mini-Ersatz verabredeten sich die beiden Freundinnen am Dienstag zu einem
ausführlichen Telefonat. Mit Tee und Aschenbecher ausgestattet setzte Anja sich in die Sonne vor Sophie’s Café. Das Telefonat war sehr schön. Und nah. Anja blickte auf den Kaiserdamm und
unterhielt sich mit ihrer Freundin über den Kiez Charlottenburg. Diese wohnt dort seit rund 20 Jahren und kennt quasi jeden Stein. Sie gab Anja noch Tipps, welches Geschäft, welches Café und
welche „Ecke“ besonders sehenswert sind. Mit diesen Empfehlungen macht sich Anja auf den Weg, um für den Geburtstag ihrer Freundin am nächsten Tag einen Strauß Blumen zu kaufen [Lieber S.: Danke
nochmals für den Botenservice!]
Ostermontag abends war es so weit: Der Auftakt der Podcast-Live-Tour (Anjas ursprünglicher Grund für den Trip nach Berlin). Und für diese Veranstaltung waren drei Personen prägend.
Veranstaltungsort war das Kabarett-Theater „Die Wühlmäuse“ in Berlin Charlottenburg. Bei der Buchung der Eintrittskarte erhielt Anja aufgrund ihres Merkzeichens B zusätzlich eine
Freikarte. Eigentlich hatte sie geplant, diese ihrer langjährigen, in Berlin lebenden Freundin zu schenken und mit ihr gemeinsam die Veranstaltung zu besuchen. Tja … aber. Anja wollte die Karte
nicht verfallen lassen und ersann Plan B. Sie fragte einen Studienfreund aus Bremen, der selbst Psychologie studiert hatte und seit vielen Jahren in Berlin lebte, ob er Interesse hätte,
sie zu begleiten. Quasi Ihr B zu sein. Die beiden hatten sich zuletzt vor fünf Jahren in Berlin getroffen und waren willig, den Veranstaltungsabend gemeinsam zu verbringen. [Lieber T.:
Vielen Dank nochmals für die charmante Begleitung!]
Kurz bevor Franca Cerutti zusammen mit ihrem Mann, dem Psychiater Christian Weiss, das Programm auf der Bühne eröffnete, gab es für eine Handvoll Teilnehmer von Francas SISU-Programm die
Möglichkeit zu einem Meet & Greet. Mit Sekt, Selfies und Geplauder. Es war für Anja großartig, ihre Lieblingspsychologin live zu sehen. Ihr das handgemachte Geschenk als Dank für ihre
Arbeit zu überreichen. Plus die Bekanntschaft mit den anderen Teilnehmern und dem unverzichtbaren Mike!
Last not least: Während der Live-Veranstaltung Psychologie to go! machte Anja Bekanntschaft mit ihrer inneren Omma. In Francas Programm erfuhr sie von dieser überaus großartigen
Frau, die prägend für Anjas weiteres Leben sein wird. Mehr dazu an anderer Stelle …
[1] https://einfachstars.info/blog/23063-was-ist-crip-time.html (20.03.2024)
[2] https://www.wwf.de/2023/april/climate-realism-der-wwf-laesst-van-gogh-monet-co-den-klimawandel-malen (17.03.2024)
[3] Vgl. https://www.wwf-climaterealism.de/ (17.03.2024)
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Okka (Samstag, 30 März 2024 22:26)
Liebe Anja, welch großartiger Bericht, der uns so intensiv an Deinem Berlin- Trip teilhaben lässt!
Ich merke, im Alltag gibt es leider nie genug Zeit um ausführlich über solche Erlebnisse zu sprechen. Wie toll, dass ich es nun in einem ruhigen Moment nachlesen konnte. Von solchen intensiven Erlebnissen kannst du bestimmt auch lange zehren! Respekt vor allem, was Du leistet!
Sonja und Andreas (Sonntag, 31 März 2024 09:55)
Hallo meine liebe wie immer!!!!
Es macht einfach Freude Texte von dir zu lesen. Man fühlt sich als sei man dabei.
Wir haben beide recht herzlich gelacht und freuen uns, dass Du auch deinen Berlin Trip gemeistert hast.
��
Britta (Montag, 01 April 2024 02:01)
Ich wünsche dir noch ganz viele solcher Mutausbrüche!