
Niedergeschrieben
in den Wachphasen
während meiner Gesundung von der Gürtelrose.
„Juchuu: Sommerferien 2024“, denke ich mit ironischem Unterton. Für mich ist es mal wieder anders. Quasi: Ich habe Trinkgeld vom Schicksal bekommen.
An den ersten drei Ferientagen bin ich angespannt, gereizt, müde. Am vierten Tag diagnostiziert mir mein Arzt: Gürtelrose. Zur Gesundung
bekomme ich Tabletten, die sieben Tage lang alle vier Stunden einzunehmen sind; plus Schmerzmittel. Zusätzlich zu meinen ca. 16 Tabletten pro Tag.
Die vielen Tabletten machen mich unglaublich müde. Die ersten Tage verbringe ich fast nur schlafend. Mein Körper ist von dem Virus geschwächt. Dabei ist mein Körper ohnehin durch die MS
geschwächt. Und nur weil die MS seit Jahren immunmodulatorisch behandelt wird, bin ich anfällig für den Zoster-Virus, der mir die Gürtelrose beschert hat. Ist das die Katze, die sich
sprichwörtlich selbst in den Schwanz beißt??
Nach acht Tagen teilt mir mein Arzt mit, dass ich nicht mehr ansteckend sei und wieder raus dürfe. Das hat einen Energieschub bewirkt!! Genau für 12 Stunden. Seitdem hänge ich wieder in
den Seilen und habe nur wenig Energie für irgendwas.
Just, als ich angefangen habe, mich im Selbstmitleid zu suhlen, animieren mich drei Rückmeldungen, den Kopf hochzuhalten und geduldig zu sein, bis die Rekonvaleszenz erfolgreich abgeschlossen
ist. Und weil sich alle drei Rückmeldungen auf Texte beziehen, die ich über meine MS-Karriere und auch allgemein zum Thema Inklusion geschrieben habe, werde ich in den Wach-Phasen mal
wieder einige Splitter aus meiner MS-Karriere niederschreiben.
# NATÜRLICHE HILFE [11/2023]
Vor den Stufen der Podologischen Praxis fiel ich hin. Eher: plumpste ich auf den Boden. Zum Glück tat es nicht wirklich weh. Ich versuchte
aufzustehen. Diverse Male. Es gelang mir aber nicht. Mein rechtes Bein war spastisch steif durchgestreckt und ich konnte mein Knie nicht beugen, um es heranzuziehen.
Fünf Meter entfernt reparierten drei Bauarbeiter eine Stelle des Kopfsteinpflasters. Sie waren mit ihrer Arbeit beschäftigt und nahmen mich anscheinend nicht wahr. Als ich gerade überlegte, mit
meinem Handy in der Praxis anzurufen und um Hilfe zu bitten, kam der älteste der drei Männer zu mir. Der ca. 50-jährige Mann griff mir freundlich, aber beherzt unter die Arme und hob mich vom
Boden auf. Er bückte sich erneut und hob auch meinen Gehstock auf. Das alles geschah wortlos. Dann ging er wieder zu seinen Kollegen.
Ich war perplex und sehr erfreut über diese „selbstverständliche Hilfe“. Immerhin war ich geistesgegenwärtig genug, dem älteren Mann ein Dankeschön hinterher zu rufen.
# MALU UND ANJA(M)S. [06/2024]
Seit rund eineinhalb Jahren engagiere ich mich ehrenamtlich im Café International Büchenbeuren - ein lokales Flüchtlings- und
Begegnungscafé. Meines Erachtens ist die Idee und die Arbeit des Projektes großartig; zudem finde ich bei den Cafégästen und dem Team ein wirkliches Belonging.
Im Winter 2023 wurde dem Café international der
rheinland-pfälzische Brückenpreis in der Kategorie „Bürgerschaftliches Engagement für und von Migrantinnen/Migranten und Flüchtlingen“ verliehen. Die Feierstunde fand in der Mainzer Staatskanzlei statt, überreicht wurde der Preis von der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer. Und ich
durfte zusammen mit mehreren Mitgliedern unseres Teams dabei sein.
Im Juni 2024 besuchte Ministerpräsidentin Dreyer während ihrer 14. „Im Land daheim“-Tour verschiedene ehrenamtliche Initiativen im
Rhein-Hunsrück-Kreis - auch unser Café. Im Gespräch ging es unter anderem um den Wunsch nach einer offenen, toleranten Gesellschaft, in der die Unterschiedlichkeit wahrgenommen und davon
profitiert wird.
Und natürlich wurden auch Abschiedsworte gesprochen, zumal es der vorletzte Arbeitstag der Ministerpräsidentin war. (Mal sehen, ob der Neue auch Gedanken Richtung Inklusion hat.
😉)
Mir jedoch bleibt Malu Dreyer erhalten. Denn sie ist weiterhin Schirmherrin des rheinland-pfälzischen Landesverbandes der Deutschen Multiplen Sklerose Gesellschaft.
# KEINE VERÄNDERUNG?? [09/2021]
Das Treffen zum 20-jährigen Abitur stand an. Lange hatte ich im Vorfeld gehadert, ob ich daran teilnehmen soll. Im Geiste befürchtete ich, dass alle anderen aus meinem damaligen Jahrgang Karriere gemacht haben und eine wahre Erfolgsgeschichte vorzeigen können. Und ich?? Zwar habe ich mein Studium beendet. Aber seitdem??
Schließlich fuhr ich zu dem Treffen an der Grillhütte. Es war tatsächlich nett, meine Klassenkameraden wiederzusehen. Obschon sich Viele rein äußerlich verändert hatten, erkannte ich die meisten wieder. Mir hingegen wurde von Vielen gesagt: „Hallo Anja, Du hast Dich ja überhaupt nicht verändert! Du siehst noch genauso aus, wie zu Abi Zeiten.“
Das versetzte mich sehr ins Staunen!! Kurze Vergleichstabelle:
2001
- kurze, schwarze Haare
- keine Brille (bzw. nur zum Autofahren)
- Fußgänger
2021
- schulterlange, braune Haare
- Hornbrille
- ROLLSTUHL
Vielleicht könnte ich daraus positiv schließen, dass ich in der Wahrnehmung meiner Klassenkameraden nicht auf den Rollstuhl (als sichtbares Zeichen meiner Behinderung) reduziert werde. Ich könnte auch erleichtert darüber sein, dass mich der Rolli aus meinem Karriere-Konkurrenz-Druck-Denken herausnimmt. Tatsächlich bleibt der fahle Beigeschmack des Nicht-darüber-Redens. Niemand fragte, weshalb ich im Rollstuhl sitze. Wie mein Leben seit dem Abitur verlaufen ist. Soziale Unfähigkeit trotz relativer Intelligenz!?!
# FREUDSCHER VERSPRECHER [10/2016]
Ich war zur Familienfeier in einer fremden Stadt. Zusammen mit meinem Mann und meinem 5-jährigen Sohn wohnte ich zwei Tage in einem
Hotelzimmer. Die Türe des Hotelzimmers war defekt: man konnte sie nicht mit einer Chipkarte, sondern nur mit dem Schlüssel öffnen. Sowohl von außen als auch von innen.
Aus Gründen fuhr ich des Nachts mit meinem Rolli vors Hotel. Den Schlüssel ließ ich im Zimmer, weil - wie gesagt - die Türe auch von innen nicht ohne Schlüssel geöffnet werden konnte.
Als ich zurückkam, schliefen mein Mann und mein Sohn zu tief, als dass sie mein Klopfen hörten. Weil ich wieder ins Zimmer und ins Bett wollte, fuhr ich zum Nachtportier des Hotels und verlangte
einen Ersatz- / Zweitschlüssel. Der Mitarbeiter behauptete, keinen zweiten Schlüssel zu haben. Es gäbe keine Möglichkeit, dass ich ins Zimmer käme. Ich war in Rage: Worte trafen auf Worte und
gipfelten darin, dass der Portier sagte:
„Es tut mir leid, da kann ich nichts tun, da bin ich behindert.“
„Ich bin auch behindert!“ entgegnete ich erbost und fuhr mit fast quietschenden Rolli-Reifen von der Bühne.
P.S.: Danke liebes Tantchen, dass ich zu Dir ins Bett konnte! :-*
# FALLVORSTELLUNG UNI-KLINIK [04/2024]
Seit circa fünf Jahren wird meine MS in der MS-Ambulanz einer großen Uni-Klinik betreut. Schon des Öfteren habe ich bei stationären Aufenthalten und auch bei ambulanten Behandlungen erlebt, dass die Ärzte einige Medizinstudenten zu mir gebracht haben, damit diese am lebenden Objekt etwas lernen können.
Im Frühjahr 2024 wurde ich von der Sekretärin des Studentensekretariates angerufen. Mir wurde gesagt, dass die Leiterin der MS-Ambulanz, Frau
Professor Doktor Z., eine Vorlesung zum Thema MS halten würde. Dabei solle meine Krankenakte zur Fallvorstellung dienen. Ob mir das Recht sei und ob ich bei der Vorlesung zugegen sein könne. Nach
kurzer Verhandlung willigte ich ein und sagte mein Kommen zu.
In den zwei Wochen, die bis zum vereinbarten Termin blieben, aktualisierte ich mein persönliches KGB (Krankengeschichtenblatt):
- Daten und Details der Diagnosestellung
- Sorten und Zeitspannen der verschriebenen Therapien (sowohl Basis- als auch Symptomatische Medikamente, ferner die verschiedenen Funktions- und Körpertherapien)
- die alternativen Therapieversuche abseits der Schulmedizin
Als ich alles ordentlich notiert hatte, überkamen mich doch Zweifel, wie die Vorlesung von Statten gehen würde. Würde ich mich vor den Studenten nackt machen? (Natürlich nur im
übertragenen Sinne, denn die Professorin hatte mir bereits gesagt, dass ich mich in der Vorlesung nicht ausziehen müsse.) Doch letztendlich war die preußische Erziehung mit starkem
Pflichterhaltungs-Gefühl den leisen Zweifeln überlegen. Ich hatte zugesagt, also würde ich auch kommen.
Ein großes Auditorium. Vorne in der Mitte waren Frau Professor Doktor Z. und ich. Die Studenten wurden aufgefordert, mir Fragen zu meiner
MS-Karriere zu stellen. Die Fragen waren (fast) allesamt harmlos und respektvoll. Nur ein Student fragte unverhohlen: „Haben Sie Blasen- und Mastdarm-Probleme?“ Daraufhin fragte mich die
Professorin, ob ich diese Frage beantworten wolle. Ich sagte: „Nein.“ Und es ging mit einer kurzen Vorführung meiner Restgehstrecke weiter.
Als ich nach einem abschließenden Satz an die Studenten gefragt wurde, bat ich: „Bitte werden Sie empathische Ärzte!!“
P.S.: Natürlich nutzte ich die Gelegenheit und ließ die URL meiner Homepage an die Tafel des Hörsaales schreiben. Daraufhin hat mir eine*r der Medizinstudent*inn*en einen Kommentar geschrieben: „Danke für Ihre Fallvorstellung bei uns in der Neurologie Vorlesung im Medizinstudium. Sowas hilft unheimlich beim Lernen solcher komplexer Krankheitsbilder!“ Plus den Satz: „PS: was für eine coole Rolli-Farbe ist das denn bitte?!“
# SCHEIN UND SEIN [06/2024]
Rollstuhlbasketball ist beeindruckend! Ein tatsächlich inklusiver Sport, bei dem männliche und weibliche sowie behinderte und nicht-behinderte Sportler zusammen eine Mannschaft bilden.
Im Juni hatte ich die Gelegenheit, an einem Rollstuhlbasketball-Turnier für Amateure teilzunehmen. Wobei nur die Spieler des Turniers Amateure waren. Ansonsten: Die Schiedsrichter des Turniers waren Spieler aus der deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft und der Rollstuhlbasketball-Bundesligamannschaft „DONECK Dolphins Trier“. Sportlich geleitet wurde das Turnier von Dirk Passiwan, dem Bundestrainer der deutschen Damen-Nationalmannschaft im Rollstuhlbasketball (auf seinem linken Bizeps hat er eine fette Paralympics-Tätowierung 😊)
Als ich am Morgen auf das Gelände der Sporthalle fuhr, fühlte ich mich sogleich wohl. Die meisten der anwesenden fuhren im Rolli. Ich war mal
nicht die Ausnahme. Dachte ich und wurde im Verlauf des Turniers eines besseren belehrt (allerdings muss ich darüber wohlwollend grinsen und fühle mich an meine eigene erste Erfahrung mit
Rollstuhlsport erinnert):
Insgesamt nahmen 12 Mannschaften an dem Amateur-Turnier teil. Die Sportrollstühle wurden von der Trierer Bundesligamannschaft zur Verfügung gestellt. Allerdings gab es weit mehr Spieler als
Rollis. Deswegen wurden alle Spieler aufgefordert, sofort nach dem Ende ihres Spiels den Rolli in der Mitte zwischen den Spielfeldern abzustellen, damit Spieler, die als nächstes an der Reihe
waren, sich jeweils einen nehmen konnten.
Ich war schon im Vorfeld sehr neugierig und gespannt darauf, in einem Profi-Sportrollstuhl zu sitzen. Das stellte ich mir toll vor. Meine Erwartung wurde noch übertroffen. WOW! Man muss nur bissl
mim Arsch wackeln und die Hüfte bewegen, um den Rolli zu lenken. Ein extrem kleiner Wendekreis! Ich war beeindruckt. Gleichzeitig aber auch ein bisschen eingeschüchtert. Davon, dass man
sich im Sportrolli anschnallt, weil man ob der Beweglichkeit und Schnelligkeit des Sportgerätes schnell aus dem Rolli rausfallen kann. Und davon, dass Sportrollstühle keine Feststellbremsen
haben. Wenn ich mich vor und nach den Spielen unserer Mannschaft in den Rolli rein- bzw. heraussetzte, bat ich immer eine zweite Person, den Sportrollstuhl festzuhalten, damit ich nicht hinfalle,
weil der Rolli wegrollt. Als ich in nach einem Spiel in die Mitte der Halle fuhr, kam ein junger Mann auf mich zu und fragte, ob ich fertig sei und ob er den Rolli haben könne.
„Klar, kannst du haben. Würdest du ihn bitte festhalten, wenn ich aufstehe und mich in meinen eigenen Rollstuhl umsetze.“
Dem Mann stand kurzzeitig der Mund offen. „Äh, …, ja. Natürlich. Äh, …, man sieht ja gar nicht, wer wirklich im Rollstuhl sitzt.“
# ANABOLIKA-SKANDAL?? [03/2024]
EILMELDUNG: Anja (M)S. ist in Top-Form. Momentan schafft sie den nächtlichen Toilettengang in unter 15 Minuten! Sensationell!!
In den Medien wird gemunkelt, ob diese Spitzenzeit das Ergebnis harten Trainings ist oder ob Anja (M)S. Doping-Mittel nimmt!?
(Diese alberne Notiz machte ich im März ’24, als mir des Nachts nach dem Ausflug ins Bad die Uhrzeit auffiel. Ich musste zu diesem Zeitpunkt noch rund vier Wochen auf die nächste Ocrelizumab-Infusion warten. Dementsprechend langsam und beschwerlich waren alle meine Bewegungen. Meine geistige Reaktion darauf ist entweder Gram oder – wie im obigen Beispiel – starker Spott.)
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