irreal - surreal - hyperreal
Ich kann nicht glauben, was mir der Arzt gerade gesagt hat.
Völlig verwirrt verlasse ich die Praxis meines HNO.
‚Das kann doch gar nicht sein. Ich habe keine Zeit! In drei Tagen soll meine vorletzte Abschlussprüfung stattfinden.’
Ich bin komplett durcheinander ob der Mitteilung des Arztes: Auf einmal sind alle Fakten, die ich bislang zu der Krankheit Multiple Sklerose gewusst habe, wie weggeblasen. Mein Kopf ist leer -
außer den schwarzen Wolken, die sich darin zusammenziehen.
Bis vor einer Stunde ist noch Alles normal gewesen. Ich stecke bis über beide Ohren im Lernstress für meinen Studienabschluss. Dementsprechend habe ich den heutigen Tag - wie alle Tage
in den letzten Wochen - exakt geplant:
- 07:30 - 09:30 h: Lernmaterial durchlesen
- 10:00 - 10:30 h: Termin beim HNO
- 11:00 - 17:30 h: für Prüfung lernen
- ab 18:00 h: Fußballparty bei Carsten und Julia
‚Ach ja, die WM …‘
Heute ist der 09. Juni 2006. Plötzlich fällt mir wieder ein, dass am Abend die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland angepfiffen wird. Alle in unserer Clique haben sich seit Wochen darauf
gefreut und eine Party geplant, um gemeinsam das erste Spiel im Fernsehen zu verfolgen.
Erst jetzt, da mir das für den Abend geplante Programm wieder einfällt, nehme ich mein Umfeld wahr: An den meisten Häusern, Geschäften und Kneipen, sogar an den Autos, hängen Deutschlandfahnen
und Wimpel. Vor dem Café an der Ecke ist ein kleiner Pavillon aufgebaut; bunte Schilder kündigen die Live-Übertragung des Fußballspiels auf einer Großbild-Leinwand an. Dazu gibt es das Angebot:
„1 Freibier pro deutschem Tor!“
Passend zu dem sonnigen Wetter liegt eine heitere und erwartungsfrohe Stimmung in der Luft. Scheinbar haben alle Menschen auf der Straße ein gemeinsames Thema und sprechen über das kommende
Großereignis: die WM im eigenen Land. Die Situation auf der Straße ist so hell und bunt und überaus real. Im Vergleich dazu wirken die schwarzen Wolken in meinem Kopf noch dunkler. Und die
Verdachtsdiagnose, die der Arzt mir gerade mitgeteilt hat, wirkt so irreal. Fern ab meines Studentenlebens. Und fern ab der Realität in Deutschland an diesem 09. Juni 2006. Mitten in dem belebten
Stadtviertel unter den gut gelaunten Menschen komme ich mir fehlplatziert vor. Und allein mit meinem Thema. Ich möchte gerne mit jemandem sprechen. Aber heute sind alle Freunde und auch meine
Familie auf das Thema Fußball gepolt - sie sind aufgeregt und freuen sich. Ich bin auch aufgeregt, aber ich freue mich nicht. Im Gegenteil: Ich habe Angst.
‚Ach jetzt bleib mal auf dem Teppich. Wahrscheinlich wird sich der Verdacht gar nicht bestätigen und du reagierst nur bisschen hysterisch’, sage ich streng zu mir selbst. ‚Natürlich weißt du
nicht, was die Mitteilung des Arztes für dich bedeutet. Dazu fehlen dir die nötigen Informationen.’
Aber trotz aller Strenge und Rationalität fühle ich mich beklommen, habe ein sehr mulmiges Gefühl im Bauch. Es ist, als würden meine Gedanken und Gefühle Geisterbahn fahren. Um mich zu beruhigen,
beschließe ich, erst mal in meine WG zu gehen. Dort kann ich im Internet einige Informationen über Multiple Sklerose lesen. Vielleicht bringt das die gewohnte Klarheit und Struktur in meinem Kopf
zurück.
Die Wohnung ist leer. Meine Mitbewohnerin Nele hat noch Vorlesungen an der Uni. Also gehe ich in meinem Zimmer an den PC und klicke mich durch mehrere Homepages zum Thema Multiple Sklerose. Die
Flut an Informationen aus diesen Quellen überschwemmt mich.
Grundsätzlich verstehe ich, dass Multiple Sklerose eine schwere Erkrankung ist, die sich bei jedem Betroffenen anders äußert. Deswegen wird MS auch als „Krankheit der 1000 Gesichter“ bezeichnet.
Für Außenstehende bedeutet Multiple Sklerose häufig, dass der Erkrankte im Rollstuhl sitzt. Aber diese Vorstellung erschreckt mich nicht am Meisten. Viel mehr erschreckt mich ein anderes
„Gesicht“ der Multiplen Sklerose: das Erblinden kann auch eine Folge der Krankheit sein. Für mein Leben wäre diese Einschränkung am Schlimmsten. Ich bin überzeugt, dass ich als angehende
Geisteswissenschaftlerin eher darauf verzichten könnte, zu Gehen als zu Sehen. Bücher lesen und Texte verfassen - das hat in den letzten Jahren mein Leben ausgemacht. Auch nach dem Studium soll
Lesen und Schreiben mein Leben prägen. Aber alles, was ich bis jetzt über MS weiß, steht im Gegensatz zu meiner aktuellen Lebenswelt. ‚Ich bin doch erst 24 Jahre alt und stehe in den Startlöchern
zu meinem Leben nach der Uni.’ Laut den Texten im Internet ist der Krankheitsverlauf eines einzelnen Patienten zwar nicht vorhersehbar. Aber klar ist, dass Multiple Sklerose das Leben des
Erkrankten drastisch prägt. ‚Also auch mein Leben?’, denke ich verzweifelt. ‚Aber ich möchte doch selbstbestimmt leben!‘
Je mehr ich über Multiple Sklerose lese, desto weniger verstehe ich. In den Internet-Texten ist die Rede von Axonen, ZNS, Myelinscheiden, Nervenleitfähigkeit, etc. pp. Keinen dieser Begriffe
kenne ich. Das ZNS habe ich nur mal in einem Song der Einstürzenden Neubauten gehört – aber was meint das Wort? Und auch die zeitliche Dimension dieser Krankheit kenne ich nicht: unheilbar und
für immer. Bislang habe ich höchstens einige Monate im Voraus gedacht und geplant. ‚Aber jetzt …?‘ Ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass die beschriebenen Fakten und Symptome dieser
Krankheit für mich gelten könnten. Zumal ich doch nur wegen heftigen Schwindel-Gefühlen zu meinem HNO gegangen bin. Sicherlich ist der Schwindel mehr als unangenehm gewesen. Es ist vielmehr das
fieseste Gefühl, das ich je erlebt habe. Aber trotzdem: es ist nur Schwindel. Die verschiedenen Symptome dieser Krankheit gehören meiner Meinung nach in eine viel höhere Klasse. Nicht mehr gehen
oder sehen zu können, ist doch schlimmer als Schwindel!
Klack - klack. Ein Schlüssel ist in der Haustür zu hören.
„Hey Anni. Ich bin’s. Wann gehen wir denn zum Fusi?“
Meine Mitbewohnerin und enge Freundin Nele S. kommt mit beschwingtem Schritt in die WG, wirft Jacke und Tasche unter die Garderobe und geht anschließend direkt in die Küche.
Verwundert ruft sie:
„Anja? Wo bist du denn?“
Nele kommt in mein Zimmer und sieht mich wie versteinert vor dem PC sitzen.
„Was ist denn mit dir los?“
Fragend blickt Nele mich an. Ich bin den Tränen nahe. Eigentlich möchte ich sofort mit meiner engen, vertrauten Freundin über das Sprechen, was mir der Arzt mitgeteilt hat. Jetzt bin ich endlich
nicht mehr allein. Aber ich finde keine Worte. Und mehr noch: Ich habe das untrügliche Gefühl, dass die Verdachtsdiagnose zur Realität wird, sobald ich sie ausspreche.
„Oh, jetzt fällt mir ein, du warst ja heute Vormittag beim Arzt. Was hat der denn gesagt?“
“Multiple Sklerose.“
“WAAS? Wieso? Aber … Das kann doch nicht wahr sein!
Das stimmt doch nicht!“
Genau wie ich ist auch Nele zugleich ungläubig und fassungslos. Nachdem ich meiner Freundin ausführlich von dem Arzttermin erzählt habe, sind wir beide komplett aufgewühlt, halten uns gegenseitig
im Arm und weinen.
Ich merke, dass es mir gut tut, das beklemmende Gefühl der Angst zuzugeben. Es nicht alleine auszuhalten, sondern mit meiner Freundin zu teilen. Zu mehr bin ich aber noch nicht bereit.
„Ach Nele, tue mir bitte den Gefallen und geh ohne mich zur Fußballparty. Ich kann jetzt nicht fröhlich und unbeschwert auf einer Party sein. Bestell liebe Grüße und sag einfach, dass ich noch
lernen müsste. Für die Prüfung.“
„Soll ich den Anderen von der Sache erzählen?“
„Kein Wort!!“
„Aber du hast doch gesagt, dass es sich vorerst um eine Verdachtsdiagnose handelt.“
„Ja genau. Vielleicht ist gar nichts dran. Es wäre mir peinlich, ohne wirklichen Grund Alarm geschlagen zu haben. Ich möchte keine Schwäche zeigen. Und wenn sich der Verdacht doch bestätigen
sollte, kann ich dann immer noch davon erzählen. Jetzt möchte ich erst mal alleine darüber nachdenken.“
„Okay. Wenn du meinst. Aber …“
„Nein, kein Aber. Ich will das nicht. Noch nicht.“
Ich bin sehr bestimmt. Außer meiner eigenen lasse ich keine Meinung gelten. Das ist für Nele deutlich zu spüren. Und weil sie sonst nichts für mich tun kann, kommt sie meiner Bitte nach und will
den Freunden nichts sagen.
An diesem Abend bleibe ich allein in der Wohnung. Den Fernseher schalte ich nicht an - den Spielstand des ersten Fußball-WM-Spiels kann ich mir ohnehin aus dem Jubel der umliegenden Wohnungen
erschließen. Stattdessen grübele ich weiter über das große Thema Multiple Sklerose in meinem Leben. Und dabei fühle ich mich sehr klein und hilflos.
‚Was soll ich denn jetzt tun? Muss ich etwas tun?‘
Der Arzt hat mir am Morgen das Versprechen abgenommen, möglichst bald einen Neurologen zu konsultieren.
‚Aber was wird dann geschehen?‘
Endlich gestehe ich mir ein, dass ich doch nicht alleine über all das nachdenken möchte und beschließe, meine Mama anzurufen. Mamas wissen schließlich immer, was zu tun ist.
Tut … tut …tut …
Das Freizeichen am Telefon mischt sich mit dem Hupen des Autokorsos auf der Straße.
Tut … tut … tut ...