Ein Symptom ist ein Anzeichen für eine Erkrankung. Das erste Symptom, das ich von meiner (damals noch nicht diagnostizierten) MS spürte, waren Parästhesien im rechten Bein. Einfach gesagt: in meinem rechten Bein hat es bei bestimmten Bewegungen gekribbelt. Das fand ich zwar auffällig, aber nicht beunruhigend. Weil es mir meine Chefin nahe legte, konsultierte ich jedoch einen Orthopäden. Der wiederum schickte mich mehrere Male auf eine seltsame, mittelalterlich anmutende Streckbank. Geändert hatte das damals nix. Aber nach einigen Wochen war von dem Kribbeln ohnehin nichts mehr zu spüren.
Aber dann: Plötzlich hatte ich mit fiesem Schwindel zu kämpfen. Dieser Schwindel war so fies, dass ich freiwillig zu einem Arzt ging. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt (HNO) addierte die beiden Symptome, hatte eine Vermutung und schickte mich zur Magnetresonanztherapie (MRT). Das Bildgebende Verfahren zeigte mehrere (multiple) Entzündungsherde (Sklerosen) in meinem ZNS. Damit stand die Diagnose MS im Raum. Der erste Schock war groß bei mir. Heute denke ich hingegen: Was ein glücklicher Zufall, dass der HNO sofort den richtigen Riecher hatte. Andere MSler müssen oft jahrelang warten, bis sie Gewissheit haben.
Apropos Zufall: Der Begriff Symptom ist abgeleitet von altgriechisch ‚symptoma’ und bedeutet ‚zufallsbedingter Umstand’.
Da fällt mir der alte Stammtisch-Spruch ein: „Zufälle gibt’s, die gibt’s ja gar nicht“. Tz tz tz!!
Seit 2006 sind bei mir noch viele andere Symptome hinzugekommen. Die Gesamtheit aller Symptome ist die Symptomatik. Im Folgenden beschreibe ich meine MS-Symptomatik. Aber natürlich auf meine Art. Weil nämlich jedes Ding hat drei Seiten - eine negative, eine positive und eine komische. Oftmals versuche ich, die Symptome komisch und humorvoll zu betrachten. Das tut mir besser, als daran zu verzweifeln.
Als erstes deutliches Symptom verspürte ich damals die Parästhesien im rechten Bein. In den vergangenen Jahren traten diese Empfindungsstörungen auch in anderen Körperteilen auf: Fuß, Arm, Gesicht, Zunge, Po, Rücken, Finger und Hände, Bauch, Rumpf. Meistens rechtsseitig, manchmal auch links. Mal sind es kribbelnde Gefühle (das sog. „Ameisenlaufen“), mal sind es taube Gefühle (vergleichbar mit einem eingeschlafenen Bein). Um mich selbst mit den kribbelnden Empfindungsstörungen gütlich zu stellen, sagte ich mir damals: „Ich werde nie wieder allein sein. Ab jetzt gehören wir für immer zusammen - das Kribbeln und ich.“
Danach kam der Schwindel. Auch dieser begleitet mich bis heute - mal mehr, mal weniger. Die deutlichste Konsequenz daraus ist, dass ich nicht auf dem Rücken liegen kann. Seit vielen Jahren sage ich: „Ich kann nicht auf dem Rücken liegen, aber ich habe trotzdem Sex.“
Im Alltag ist es meistens gut möglich, auf die Rückenlage zu verzichten. Zum Beispiel schlafe ich überwiegend in Seitenlage. In der Physiotherapie lasse ich die Übungen in Rückenlage weg. Niemals käme ich auf die Idee, mich rücklings auf eine Wiese zu legen und in den Himmel zu schauen. Wenn ich in einem Film Personen in dieser Pose sehe, empfinde ich fast Mitleid mit den Schauspielern. Meine Abneigung gegen die Rückenlage geht sogar so weit, dass ich beschlossen habe, in meinem Testament anzuweisen, dass ich nicht auf dem Rücken in den Sarg gelegt werde.
Schon bald nach der Diagnose kamen Gleichgewichts- und Gangstörungen dazu. Als ich deswegen zum ersten Mal im Vorbeigehen einen Mann unabsichtlich anrempelte, brüllte dieser mich an: „Ey, du dumme Fotze.“ Andere reagierten lockerer: Als ich auf einem Street-Festival stehend andere Besuch so heftig anrempelte, dass diese ihr Bier verschütteten, sagte mein Kommilitone beschwichtigend: „Och, die fällt in letzter Zeit öfter mal um.“
Seit 2007 gehe ich wöchentlich zur Physiotherapie. Dort mache ich sehr viele Gleichgewichtsübungen. Denn, so habe ich gelernt, das Gleichgewicht kann nur trainiert werden, indem man es reizt. Jeder Fehltritt hilft mir also ;-) . Damit die Fehltritte allerdings keine bösen Auswirkungen haben, brachte mir eine Physiotherapeutin verschiedene Ausfallschritte bei. Sollte ich dennoch fallen, habe ich schon diverse Male ein Falltraining absolviert. Damit ich weiß, wie ich „richtig“ falle - mir also möglichst nur die Knie aufschlage statt mir die Hüfte zu brechen.
Ähnlich wie bei der Gleichgewichtsstörung habe ich auch eine Abwärts-Entwicklung in meiner Gangstörung. Anfangs fielen mir weitere Strecken schwer und ich schaffte mir deswegen eine Unterarmgehstütze und einen Gehstock an. Seit damals wird meine Gehstrecke allerdings stetig kürzer. Und mein Hilfsmittel-Sortiment wird stetig größer. Mittlerweile besitze ich neben mehreren Unterarmgehstützen auch zwei Rollatoren, einen Rollstuhl und eine Fußheber-Orthese. In den Arzt- und Reha-Berichten ist von einem spastisch-ataktischen Gangbild die Rede (Ataxie ist in der Medizin ein Oberbegriff für verschiedene Störungen der Bewegungskoordination). Und mein Neurologe hat mir Anfang des Jahres 2018 einen EDSS 6 bescheinigt; das bedeutet 100 Meter gehfähig mit einseitigem Hilfsmittel (EDSS = Expanded Disability Status Scale; ein Skalensystem zur systematischen Erfassung der Behinderung bei MS).
Beide Symptome, also die Gleichgewichts- und die Gehstörung, bewirken inzwischen, dass ich am Ende eines Tages, an dem ich viel „auf den Beinen“ war, starke Rückenschmerzen habe.
Die Rückenschmerzen können allerdings auch die Folge der Spastik sein. Spastizität gehört definitiv auch zu meinen Symptomen. Grundsätzlich wird die Muskulatur des Menschen durch das Nervensystem gesteuert. Bei einer Spastik ist die normale Spannung der Muskulatur, der Muskeltonus, so erhöht, dass die Muskeln steif werden und sich verkrampfen. Oftmals spüre ich nach zu langen „Ruhephasen“ eine übergroße Steifigkeit in den Gliedern. Teilweise reicht es schon, dass ich längere Zeit gesessen habe, damit meine Gliedmaßen spastisch steif werden. Fast immer geschieht dies, nachdem ich nachts acht Stunden im Bett gelegen habe. Früher scherzte ich oft, dass ich wie Männer morgens sehr steif sei. Mittlerweile bin ich zunehmend genervt von dieser Morgensteifigkeit. Nach dem Aufstehen dauert es morgens mindestens eine Stunde, bis ich relativ „normal“ gehen kann.
Definitiv schlimmer als die bisher beschriebenen Symptome erlebte ich folgendes MS-Symptom: die Lähmung. Eines Nachts 2008 wachte ich wegen eines Harndrangs auf. Halbwach und schlaftrunken wollte ich aufstehen, um zur Toilette zu gehen. Aber ich konnte mich nicht bewegen. Die rechte Körperhälfte nahm keine Anweisungen an. Ich kapierte nicht, was los war. Ungeduldig ruckelte und zappelte ich, bis ich schließlich aus dem Bett fiel. Zum Glück war es ein Futonbett - ich fiel also nicht sehr tief. Später bezeichnete der Neurologe das, was bei mir geschehen war, als Paraparese - also eine halbseitige, unvollständige Lähmung. Dank der nachfolgenden Kortisonstoßtherapie und der Anschlussheilbehandlung (AHB) erholte ich mich körperlich fast gänzlich von diesem Schub. Allerdings ist bis heute eine psychische Nachwirkung vorhanden. Des Öfteren habe ich Angst davor, ins Bett zu gehen, weil ich befürchte, nach dem Aufwachen nicht mehr gehen zu können.
Als typisches Symptom der MS gelten auch Sehstörungen. Diese treten in unterschiedlicher Intensität auf und führen schlimmstenfalls zum Erblinden. Zum Glück hatte ich bislang in meiner MS-Karriere nur einmal einen Schub auffe Augen. Damals beeinträchtigten mich die Sehstörungen über mehrere Wochen in meinem Alltag. Das Schlimmste daran fand ich, dass niemand meiner Mitmenschen das nachvollziehen konnte. Sogar die Augenärztin schrieb O.B. (ohne Befund) in ihren Bericht. Erst ein befreundeter Orthoptist (Fachkraft in der Augenheilkunde) bestätigte mir die Sehstörung.
An diesem Punkt lässt sich gut der Unterschied zwischen subjektiven und objektiven Symptomen erklären. Grundsätzlich ist ein Symptom ein Symptom. Allerdings sind manche meiner Symptome klinisch feststellbar, andere Symptome sind nur für mich als Patient zu spüren. Und wiederum anders bemerken meine Mitmenschen die Symptome. Wenn ich beispielsweise an einem Tag ein schlechtes Gangbild habe, ist das für die Meisten unübersehbar und sie schweigen pietätvoll. Wenn ich am nächsten Tag allerdings ein unauffälliges Gangbild habe, also fast „normal“ gehe, wird dies meist lauthals kommentiert. Gleichzeitig bleibt meinem Gegenüber aber verborgen, dass ich an diesem Tag z.B. starke Parästhesien habe. Dies ist kein Vorwurf an meine Mitmenschen. Es soll nur aussagen, dass es in meinem Körper selten ruhig ist. Weil diese „Unruhe“ von Außen aber nicht festzustellen ist, kämpfte ich lange Jahre mit dem Gefühl, dass Andere denken würden, ich täte nur so, als ob ich behindert sei.
Ein stark ausgeprägtes Symptom meiner MS ist das Uhthoff-Phänomen. Dies meint die vorübergehende Verschlechterung der verschiedenen Symptome bei einer Erhöhung der Körpertemperatur. Sprich: Wenn es heiß ist (egal ob wegen Sonne im Sommer, heißen Duschen oder überheizten Räumen), funktioniert mein Körper nur in Zeitlupe. Die Reizweiterleitung in den Nervenbahnen wird durch Wärme stark verlangsamt.
Wie anfangs gesagt: Jedes Ding hat drei Seiten. Die negative Seite an diesem Symptom ist, dass es mir teilweise den Sommer verleidet. Die positive Seite daran ist, dass ich der Hitze mittlerweile recht gut entgehen kann, indem ich nicht überlang dusche, auf Sonnenbäder und Saunabesuche verzichte. Die komische Seite an der starken Ausprägung meines Uhthoff-Phänomens ist eine Karriere-Chance. Da ich fast immer schon einen Tag zuvor den Wetterumschwung von kühleren zu wärmeren Temperaturen spüre (meist durch heftigen Schwindel), kann ich zukünftig eine Karriere als Wetterfrosch machen.
Noch fremder ist der Name eines weiteren Symptoms - das Lhermitte’sche Zeichen: Bei der Beugung des Nackens kommt es zu elektrisierenden Gefühlen, die entlang der Wirbelsäule bis in die Füße ziehen.
Ein weiteres Symptom meiner MS-Symptomatik ist die Blasenfunktionsstörung. Es handelt sich bei mir am ehesten um eine Dranginkontinez. Aber es gibt keine monokausalen Erklärungen. Spastik ebenso wie Empfindungsstörungen spielen hierbei auch eine Rolle. Dankbarerweise sind heute nicht ganz abschreckende Inkontinenz-Produkte erhältlich. Und auch medikamentös lässt sich die Blasenfunktionsstörung regulieren. Insofern lässt sich die regelmäßige Verwendung eines Katheters noch hinauszögern.
Das abstrakteste Symptom meiner MS ist die Fatigue. Es ist ein Gespenst, das regelmäßig aber doch stets unerwartet auftritt. Die Fatigue wirkt sich auf Ausdauer, Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit aus.
Einerseits ist Fatigue wie eine riesige, bleierne Müdigkeit, die trotz Schlaf nicht verschwindet. Dieser vorzeitigen Erschöpfbarkeit versuche ich durch geschickte Arbeitseinteilung und regelmäßige Pausen ein Schnippchen zu schlagen.
Andererseits beschränkt das Symptom Fatigue die kognitiven Fähigkeiten. Wenn ich z.B. erschöpft bin, kann ich nicht wirklich denken und bin gleichzeitig mehr als vergesslich und unkonzentriert.
Die Auswirkungen der Fatigue auf meine kognitiven Fähigkeiten habe ich ‚Schwarz auf Weiß’. Anlässlich des bevorstehenden Rentenantrages musste ich 2015 in der Reha mehrere Hirnleistungstests durchführen. Das Ergebnis war deutlich: In der Kategorie ‚logisches Denken’ schloss ich überdurchschnittlich ab, in den Kategorien ‚Langzeitgedächtnis’ und ‚Kurzzeitgedächtnis’ schloss ich die Tests jeweils unterdurchschnittlich ab. Kurz gesagt: Ich bin nicht dumm, kann mir das aber leider nicht merken.
Viele meiner körperlichen Symptome sind nervig, anstrengend, manchmal Angst einflößend. Aber meistens finde ich einen Weg, mich damit zu arrangieren. Und wenn ich irgendwann gar nicht mehr laufen kann, gibt es Hilfsmittel. Aber wenn ich nicht mehr selbstständig denken kann …
Vor kognitiven Einbußen habe ich definitiv die größte Angst. Seit circa 2014 Jahren spüre ich zunehmend größer werdende kognitive Probleme. Anfangs machte es mich wütend, die ständigen „Wortfindungsstörungen“ oder das häufige Wechselstaben verbuchen (erst nur mündlich, dann auch in Träumen und mittlreweile sogar schriftlich). Inzwischen kann ich über solche Aussetzer kopfschüttelnd lachen.
Außer der Fatigue sind HirnAtrophien der Grund für kognitive Störungen. Deutlich gesagt: meine Hirnzellen sterben vermehrt ab und das Hirnvolumen verkleinert sich. Als ich nach einem MRT zum ersten Mal über Atrophien in meinem Gehirn informiert wurde, war ich erschrocken und deprimiert. Um das Gefühl der Hilflosigkeit zu kompensieren, setzte ich zum Angriff an und sagte in meiner unverbesserlichen Art: „Wie gut, dass ich vor der Diagnose MS hyperintelligent war. Jetzt, da meine Hirnmasse schrumpft, komme ich auf euer Niveau runter.“
Auch der Zufall hat drei Seiten:
- negativ: Je mehr der Mensch plant, desto härter trifft ihn der Zufall.
- positiv: Was einem zufällt, hat man verdient.
- komisch: Woher kennt der Zufall so viele unpassende Momente?