26 Stunden Horror - trotz Ficken

Seit zwei Monaten harrt Anja darauf, mit ihrem neuen MS-Medikament (Gilenya) anzufangen. Anja ist freudig gespannt. Die Erstgabe soll stationär erfolgen, damit die Patientin während dessen überwacht wird. „Ach, das wird schon nicht so schlimm werden“, denkt sie. Aber denkste! Es war Horror - trotz Ficken.

 

Die Stroke-Unit ist eine kleine Intensivstation. Die Zimmerinsassen sind gemischten Geschlechts. Zwischen den Betten hängen Tücher. Isolation.
Es ist ein großes Zimmer mit sechs Betten: In den vorderen drei Betten sind relativ fitte Patienten, in den anderen drei Betten liegen schwer getroffene Schlaganfall-Patienten. Die beiden Bereiche sind durch eine Glasfront mit geschlossenen Jalousien und einer laut scheppernden Falttür getrennt. Anja wird ein Bett in dem fitten Bereich zugewiesen. Dort ist bereits eine Frau stationiert, der dritte Patient trifft unmittelbar nach Anja ein. Er wird von der Krankenschwester zuerst nach den Essenswünschen gefragt. Er bellt lauthals: „BRÖTCHEN, BUTTER, MARMELADE, KAFFEE!“ Grinsend nennt Anja den Patient Ausbilder Schmitt.  

Dann kommt Anja an die Reihe. Zuvor geht sie noch schnell zur Toilette, die sich im kranken Bereich des Zimmers befindet. Als Anja zurückkommt, sagt sie zu ihrer Bettnachbarin: „Wow, hier ist die lustige Fraktion. Drüben liegen die Halbtoten.“     

Anja legt sich auf das Bett. Die Kabel des Überwachungsmonitors sind schnell angeschlossen. Aber die Blutdruck-Manschette passt nicht. Zu groß. Die nächste auch. Das Messen ist nicht möglich. 

Beeeep

Anja fragt: „Bin ich schon tot?“ Schließlich kommt ein Pfleger und legt Anja eine schmale Manschette für Kinder an.

 

Schwupps. Anja nimmt die erste Tablette des neuen Medikaments ein. Damit beginnen die sechs Stunden Überwachung. Sechs sehr laaange Stunden. 

Auf den Monitoren kann Anja sehen, wie ihr Blutdruck kontinuierlich sinkt. Doch es hätte nicht der optischen Bestätigung bedurft. Anja fühlt sich zunehmend schlapp. Sie ist schläfrig. Lesen scheint zu anstrengend. Immer wieder hört Anja das Röcheln, Schnarchen und Stöhnen aus dem kranken Bereich. Dann verkündet dort eine Schwester: „Ich muss mal eben intubieren.“ Anja bemerkt, wie ihr kotzschlecht wird. Schnell setzt sie sich ihre Kopfhörer auf. Laute, krachige Musik zur Ablenkung.

 

Halbzeit. Ein Pfleger kommt in den fitten Bereich des Zimmers und checkt die Vitalfunktionen. Anja grübelt. So viele Pfleger hat sie noch nie gesehen. Kurz überlegt sie, ob das mit ihrem T-Shirt zu tun hat. Auf dem Shirt steht in großen Lettern FICKEN.       

Anja wird quengelig. Sie hat keine Geduld mehr, weitere drei Stunden dort im Bett angeschlossen zu sein. „Also im Beipackzettel steht ja“, erklärt sie dem Pfleger, „wenn der Patient in den ersten Stunden nach Beginn der Medikation nicht abkratzt, würde nix weiter passieren.“ Der Pfleger lacht. „Dann kann ich doch jetzt von dem Monitor abgekabelt werden, oder?“ „Sprechen Sie mit ihrem Arzt oder Apotheker“, antwortet der Pfleger und verlässt das Zimmer.

Als der Pfleger verschwunden ist, schlägt einer der Monitore im kranken Zimmer Alarm. 

Beep-beep-beep 

Nix passiert. Anja und die beiden anderen fitten Patienten sind durch ihre Monitor- und Manschettenkabel jeweils an ihr Bett gefesselt. 

Beep-beep-beep 

Niemand vom Pflegepersonal kommt. Frustriert und verängstigt denkt Anja: „Wahrscheinlich kommt erst jemand, wenn aus dem rhythmischen Beep ein langgezogenes Beeeeeeep geworden ist. Und wenn auf den Monitoren statt den gezackten Linien eine durchgezogene 0-Linie zu sehen ist.“ 
    

Anja wird abermals mulmig. „Was soll ich hier?“ Selbst im Vergleich zu den fitten Patienten kommt Anja sich mega fit und stark vor. Plötzlich erscheint ihr das Zimmer bedrückend eng. Sauerstoff gibt es dort schon längst nicht mehr. Als um 17:00 h das Abendessen gebracht wird, schlingt Anja es in rekordverdächtiger Zeit runter. Wenigstens hat sie damit etwas zu tun. Sehnsüchtig schaut sie immer wieder auf die Uhr. Nur noch eine Stunde.

Sofort nach Ablauf der Zeit klingelt Anja. Ein Pfleger (ach!) erscheint und schreibt das abschließende EKG. Alles in Ordnung. Die Werte sind okay. Der Pfleger löst alle Kabel und empfiehlt: „Laufen Sie jetzt gerne mal bisschen rum.“ Anja verkneift sich eine sarkastische Antwort. Stattdessen quält sie sich unter spastisch verzerrten Anstrengungen aus dem Bett. Dort steht Fiedel, ihr Rollstuhl, bereit. Anja will schnell raus an die frische Luft fahren. Dort befriedigt sie ihre Schmacht auf Nikotin.

 

Zurück auf Station wird Anja von einer Schwester erklärt, dass sie jetzt ein Bett in einem normalen Krankenzimmer habe. Ein Dreibettzimmer. Anja ist alleine dort. Sie ist beinahe froh. Nur der auf Station wabernde Geruch nach Scheiße stört. Der Norovirus grassiert.         

Wenig später bemerkt Anja ein Grummeln in ihrem Bauch. Als sich der Druck im Darm erhöht, fragt sie im Schwesternzimmer nach. „Wie lange ist die Inkubationszeit beim Norovirus?“ „Zwischen 2 und 50 Stunden. Geben Sie einfach Bescheid, wenn Sie das erste Mal Durchfall abgesetzt haben.“ 

„Aha“, sagt Anja, „aber wenn ich fest kacke, muss ich das nicht sagen?“ 

Die beiden Schwestern blicken irritiert drein, der Pfleger lacht brünftig.    

Als Anja sich zur Nacht ins Bett legt, hört sie im Stationsflur eine Schwester flöten: „So, dann wollen wir mal das Popöchen abwaschen.“ 

Schnell setzt Anja ihre Kopfhörer auf. Sie will von all dem nichts hören. Nach knapp vier Stunden Schlaf wacht Anja auf. Der stechende Gestank nach Scheiße kriecht unter der Zimmertür durch. Igittigitt. Wieder blickt Anja sehnsüchtig auf die Uhr. Nur noch Frühstück und Visite, dann will sie sofort nach Hause.

 

Am Morgen erlebt Anja ähnlich Schockierendes: Auf dem Flur fragt eine Schwester ihre Kollegin: „Ist Frau Müller bei euch auf der Stroke?“ „Nein.“ „Ach so, dann ist sie tot.“

Die Putzfrau, die das übliche Desinfektionsmittel im Zimmer verteilt, trägt wie selbstverständlich eine TBC-Maske. Aus dem Nachbarzimmer hört man das laute Geschrei einer neuen Patientin.     

 

Einzig die Lernschwester, die Anjas morgendliche Vitalfunktionen misst, scheint normal. Sie fragt mit Blick auf das T-Shirt: „Trinken Sie auch gerne FICKEN? Das ist voll lecker.“