1. Loser-Häschen
Und schon wieder ist er da: ein neuer Schub.
So habe ich es noch nie erlebt. Als hätte jemand aus einem prallen Luftballon die Luft raus gelassen. Ich fühle mich wie das Loser-Häschen neben dem fit und munter trommelnden Duracell-Häschen. Meine Batterie ist leer. Alles ist zu anstrengend. Mist. Wie soll ich reagieren? Ich will nicht schon wieder Kortison bekommen.
Zwei Tage später fahre ich zu meinem Neurologen. Zwar befürwortet er es nicht, aber akzeptiert meine Entscheidung gegen Kortison. Allerdings wertet er die weitere Verschlechterung, die sich als Schub manifestiert, als Beleg für die hohe Aktivität meiner MS. Dafür sprechen auch die circa 4 Wochen alten MRT-Aufnahmen, die neue Läsionen seit dem Beginn der letzten Basistherapie zeigen. Der Neurologe rät mir dringend zu einer Eskalationstherapie. Er empfiehlt mir eher Tysabri als Gilenya. Aber das, was ich bisher über Tysabri weiß, macht mir Angst! Dennoch verspreche ich dem Neurologen, mich für eines der beiden Eskalationsmedikamente zu entscheiden.
2. Sterben?
Am nächsten Tag versuche ich mein lückenhaftes Wissen über Tysabri mit Informationen aus dem www zu spicken. Was ich dort lese, erschreckt mich noch mehr. Es sind deutliche Aussagen über die Möglichkeit des JC-Virus, woraus die PML-Krankheit entstehen kann, die wiederum binnen 3 bis 20 Monaten zum Tod führt. Ich drucke zwei Seiten mit Informationen aus und gebe sie meinen Eltern. Reden kann ich ohnehin nicht sehr gut, aber ich will meinen Nächsten mitteilen, warum mich der anstehende Therapiewechsel derart erschreckt. Und dass es nicht nur um irgendwelche neuen Pillen geht, sondern dass meine MS gefühlt eine andere, sehr viel ernstere Stufe erreicht hat. Natürlich liest meine Familie das Ausgedruckte. Daraufhin ist die Stimmung sehr gedrückt. Ratlose Gesichter. Alle Beide wissen, dass ich die Entscheidung für oder gegen Tysabri selbst treffen muss. Sie können und wollen mir nichts raten. Gestehen ein, ebenso überfordert zu sein, wie ich mich fühle.
Um eine Entscheidung treffen zu können, will ich noch mehr Informationen. Tausend Fragen schwirren mir durch den Kopf. Immer wieder denke ich an Thomas, den ich in der Reha kennen gelernt habe. Er nimmt seit vier Jahren Tysabri. Warum vier Jahre, wenn es von Ärzten nur für zwei Jahre verschrieben wird? Er ist positiv. Hat den JC-Virus und nimmt dennoch Tysabri. Wie kann das sein, wenn doch daraus eine tödliche Krankheit wird? Er ist viel „behinderter“ - stärker eingeschränkt - als ich es bin. Weshalb ist er dennoch absolut überzeugt, dass Tysabri die aktuell beste Eskalationstherapie ist, die es gibt? Und dass Tysabri ihm sehr hilft!?
Ich telefoniere mit einigen ‚Sachkundigen’, die ich zum Thema MS und Tysabri kenne. Eine der eindrücklichsten Aussagen ist: „Schon klar, dass das sehr Ernst ist. Tysabri ist absolutes Gift, da muss man nichts schön reden. Wenn ein Tropfen davon auf deinen Schuh tropft, hast du ein Loch im Schuh. Es kostet Überwindung, sich das in die Venen spritzen zu lassen. Aber es hilft. Tysabri hilft MSlern extrem gut!!“
Ähnlich sind die Aussagen, die ich in den einschlägigen MS-Foren finde. Von 10 Leuten sagen 5, dass sie sehr froh sind, sich für Tysabri entschieden zu haben, weil es ihnen extrem gut hilft. 4 Leute sagen, dass sie sich ob der irreversiblen Nebenwirkung ‚Tod’ bewusst gegen Tysabri entschieden haben. Nur eine Person berichtet, dass das Medikament Tysabri bei ihr nicht angeschlagen habe.
Die vielen unterschiedlichen Informationen zum Thema Tysabri formen ein genaueres Bild bei mir. Nach einigen Tagen habe ich begriffen, dass diese Eskalationstherapie nachweislich sehr wirksam ist und nicht zwangsläufig zum Tod führen muss. Es gibt gute Kontrollmechanismen. Die Konzentration der T-Zähler ist entscheidend dafür, ob aus dem Virus die tödlich Krankheit wird. Zum Vergleich: nicht jeder, der HIV-positiv ist, hat AIDS. Ich habe den Gedanken, dass es mir natürlich um jeden der Toten durch Tysabri leid tut, aber dass die Todesfälle sicherlich für eine erhöhte Sensibilität der Ärzte sorgen und somit meine Versicherung sind, dass mir ‚nix’ passieren wird.
Zu 80% habe ich meine Entscheidung getroffen. Für Tysabri. Nur zwei Fragen sind noch offen. Die konnte ich trotz vieler Recherchen noch nicht klären und will sie mit meinem Neurologen besprechen. Zum einen frage ich mich, ob ich ansteckend bin, wenn ich mir den Virus „einfange“. Schließlich habe ich ein kleines Kind. Außerdem bin ich eine junge Frau, die trotz Behinderung noch Sex hat. Zum anderen frage ich mich, ob ich den Virus lebenslang habe, falls ich ihn bekommen sollte.
3. Entschluss
In acht Tagen findet der Termin bei meinem Neurologen statt. Bis dahin muss ich mich für eines der beiden Eskalationsmedikamente entschieden haben. Mir bleibt aber nicht allzu viel Zeit zum Nachdenken, weil mein Sohn einen heftigen Magen-Darm-Infekt hat und ich als Mama alle Hände voll zu tun habe. Abgesehen davon, dass es immer anstrengend ist, dass eigene kranke Kind zu betreuen, bin ich eigentlich froh über diese Aufgabe. Zumal sie mich davon abhält, die schon vielfach gedachten Gedanken immer wieder zu durchdenken. In Dauerschleife. Musikalisch begleitet von Johnny Cashs Cover „The Mercy Seat“: I’am not afraid to die. Auch das Lied in Dauerschleife.
Am Ende der Woche wird mir bewusst, dass ich wieder relativ stabil bin. Körperlich. Samstags treibt es mich raus in den herbstlichen Garten. Dort „fälle“ ich mit der elektrischen Heckenschere den riesig hohen Bambus und schreddere die Äste kompost-gerecht. Ich bin wahnsinnig stolz, diese körperliche Anstrengung zu schaffen. Noch vor acht Tagen konnte ich nicht wirklich lange stehen. Und jetzt erledige ich mittelschwere Gartenarbeit. Wow! Wie so oft habe ich das Gefühl, im Kopf kaum hinterherzukommen, welche körperliche Verfassung aktuell bei mir vorliegt. Zu schnell und krass gegensätzlich ändern sich die Bedingungen. Aber insgesamt breitet sich in dem herbstlich sonnigen Garten ein gutes Gefühl in mir aus und trägt zu einer Entscheidung bei. Ich möchte die Therapie mit Tysabri machen! Wenn das Medikament dazu beitragen sollte, dass ich eine Zeit lang fit und „schubfrei“ bin, wenn das Medikament dazu beitragen sollte, dass ich mein Leben leben kann, dann will ich es! Trotzdem es ein Risiko beinhaltet.
4. Termin Neurologe: Entscheidung
Endlich ist der Tag da, an dem der Termin bei meinem Neurologen stattfindet. Ich bin aufgeregt, was wohl passieren wird. Aber ich bin bereit. Seit über drei Wochen mache ich mir Gedanken zum Thema Eskalation. „Jetzt ist genug gedacht - jetzt wird gehandelt!“, denke ich mir. Aber denkste … so schnell schießen die Preußen nicht.
Ich teile meinem Neurologen mit, dass ich mich für das Medikament Tysabri entschieden habe und halte ihm quasi schon meine Vene entgegen. Mein Arzt ist sichtlich zufrieden mit meiner Entscheidung und sagt, er würde das an den zuständigen Neurologen im örtlichen Krankenhaus weitergeben. Dieser würde sich zeitnah bei mir melden und die Details vereinbaren.
„Wie jetzt?“, denke ich mir. Es dauert also noch eine zeitlang, bis die Therapie tatsächlich beginnen wird!? Also wieder warten!? Warum war ich so nervös vor einem Termin, an dem praktisch Nichts passiert?
Wenigstens schafft es der Neurologe, meine Bedenken und Sorgen ob der Eskalationstherapie zu mindern. Ich verstehe, dass das Medikament nicht so sehr gefährlich ist und dass die Vorteile der Therapie deutlich überwiegen.
5. Termin Krankenhaus: Erstgespräch
Es dauert einige Tage bis ich einen Anruf von der Sekretärin des Chefarzt-Neurologen erhalte. Und es dauert wieder mehrere Tage, bis zum Erstgespräch, das vor dem Therapiebeginn notwendig ist.
Das Gespräch mit dem Neurologen im Krankenhaus verläuft komplett unerwartet. Da er mich als Patientin und meine Krankengeschichte nicht kennt, resümiere ich die letzten neuneinhalb Jahre. Ich teile dem Arzt mehrfach mit, dass ich mit meinem ambulanten Neurologen den Beginn einer Eskalationstherapie mit Tysabri beschlossen habe. Ich will wissen, wann genau es denn damit los gehe. Meine Ungeduld wird allerdings weiter geschürt. Erst müssten noch notwendig Untersuchungen gemacht werden, bevor die Entscheidung für eines der beiden Eskaltions-Medikamente getroffen werden könne. - Tief Luft holen … Arrggghhh … slow down, little girl - Wenigstens ein Teil der notwendigen Untersuchungen kann sofort gemacht werden. Mir wird eine Blutprobe entnommen, damit diese nach Dänemark zur Typisierung geschickt wird. Und natürlich werden die beim Neurologen üblichen VEPs und SEPs geschrieben. Weitere Blutuntersuchungen müsse ich allerdings beim ambulanten Neurologen oder beim Hausarzt machen lassen, weil er als Chefarzt das nur anordnen dürfe, wenn ich stationär im Krankenhaus sei.
Anschließend kommt eine Mitarbeiterin der neurologischen Station und macht mit mir den Termin zur stationären Aufnahme aus. In drei Wochen.
Endlich liegt der Arztbrief des Krankenhaus-Neurologen vor. Darin stehen die Untersuchungen, die ich vor Beginn der Eskalationstherapie ambulant machen soll. In der Praxis des niedergelassenen Neurologen werde ich freundlich aber bestimmt abgewiesen. Also wende ich mich an meinen Hausarzt. Er liest den Arztbrief und es ist ihm absolut unbekannt, worauf mein Blut untersucht werden muss. Der Allgemeinmediziner durchforstet das Internet und seinen medizinischen Bücherschrank auf der Suche nach Informationen und Erklärungen. Je länger das dauert, desto mehr bekomme ich das Gefühl, eine wirklich exotische Therapie zu beginnen. Einzig der Wille, das Medikament Tysabri zu nehmen, und die damit verbundene Hoffnung, ein bisschen mehr Ruhe in meinem Nervensystem zu haben, lässt mich die unerwartet paradoxe Sprechstunde aushalten. „Ja okay, er ist kein Facharzt“, versuche ich mich zu beruhigen. Aber der Umstand, dass nicht mal ein studierter Arzt je von den Begriffen in dem Arztbrief gehört hat, macht mir erneut die Stufe deutlich, auf der ich mittlerweile mit meiner MS stehe.
6. Ein tiefes Tief
Telefonisch frage ich in der Neurologie im Krankenhaus nach, ob das Ergebnis der Typisierung in Dänemark bereits vorliegt. „Ja, das Ergebnis liegt vor. Sie sind positiv. Also Sie haben den JC-Virus. Der Doktor wird sich noch mit Ihnen in Verbindung setzen.“ Tut - tut - tut … Fassungslos halte ich das Telefon fest. Gefühlt hat sich ein riesiges Loch unter mir aufgetan. Eine Leere, in die ich falle. An den Rändern blitzen tausend Fragen auf. „Wieso bin ich positiv? Ich bin doch der geborene Pessimist. Ich bin immer negativ.“ „Was bedeutet das für den Therapiebeginn?“ „Werde ich sterben?“ Alle bislang gedachten Gedanken erscheinen mir plötzlich überholt und unnötig. Wochenlang hatte ich gehadert mit der Entscheidung für oder gegen Tysabri. Trotz aller Ängste fiel meine Entscheidung für Tysabri aus - verbunden mit der Hoffnung auf mehr Lebensqualität. Aber jetzt habe ich schon vor Therapiebeginn den befürchteten Virus. „Was bedeutet das?“ „Wann wird sich der Arzt bei mir melden?“ „Werde ich in einer Woche stationär im Krankenhaus sein?“
Ich bin gänzlich überfordert zu verstehen, was das Ergebnis der Typisierung für mich bedeutet. Und ich will nicht mehr andauernd über dieses Thema nachdenken. Stopp. Aus. Ich will fliehen. Meine Ruhe haben. Für den Rest des Tages klinke ich mich aus. Von meiner Umwelt und von meinen Gedanken. Erstaunlicherweise gelingt mir dieses Abschotten beinahe gänzlich. Mechanisch gehe ich abends zu Bett und stehe am nächsten Morgen wieder auf, versorge mein Kind und bringe es in den Kindergarten. Das Wissen darum, dass ich den Virus habe, lähmt mich. Mehr denn je zuvor funktioniere ich, ohne auch nur die kleinste Emotion zu zeigen.
7. "Ich bin JC-positiv???"
Seitdem ich erstmals von der Therapie mit Tysabri gehört habe, schwebt das Wissen um den Virus wie ein Damokles-Schwert über der viel Hoffnung versprechenden Medizin. Anfangs wusste ich nur von der Existenz eines solchen Virus. Und dass der Virus, bedingt durch die medikamentöse Therapie, die das Immunsystem sehr stark runterschraubt, eine Krankheit namens PML (Progressive multifokale Leukenzephalopathie) hervorrufen kann. Diese wiederum ist binnen 3 bis 20 Monaten tödlich.
Ich ging zuerst davon aus, dass man sich den Virus im Verlauf der Therapie zuzieht. Mittlerweile habe ich gelernt, dass jeder Mensch den Virus in sich tragen kann. Ähnlich wie das Herpes-Virus - viele haben ihn, nicht bei allen tritt er zum Vorschein. Also werde ich nicht ansteckend sein, den Virus aber auch lebenslang haben. Gefährlich wird der Virus nur für Menschen mit einer Immunschwäche.
Zwei Tage später finde ich in der Post einen Brief des Chefarztes der neurologischen Krankenhaus-Station. Darin teilt er mir mit, dass ich wohl schon irgendwo in Kontakt mit dem JC-Virus kam, weil er in meinem Blut nachgewiesen werden konnte. Grundsätzlich würde dies aber nicht gegen eine Therapie mit Tysabri sprechen. Zu Beginn meines Krankenhaus-Aufenthaltes würde er mit mir besprechen, welche der beiden Eskalationstherapien begonnen wird. Falls die Entscheidung allerdings zugunsten des anderen Medikamentes falle, solle ich zwingend notwendig die Ergebnisse der ambulanten Blutuntersuchung mitbringen. Und meinen Impfpass.
Meine Ungeduld wird ein wenig gemildert: Nur noch ein Wochenende muss ich warten und dann findet endlich der stationäre Therapiebeginn statt! Zwar bin ich verunsichert, aber fast schon freue ich mich auf den Anfang. Zumindest hat das Warten ein Ende.
8. Krankenhaus
8.1 Warten auf Godot
10:00 h - Pünktlich finde ich mich auf Station 3 des Krankenhauses ein. Meine Mutter begleitet mich zu dem Termin. Zusammen beziehen wir Stellung in „meinem“ Patientenzimmer und warten auf den Chefarzt.
10:20 h - Eine Krankenschwester erklärt mir die Tagesstruktur auf Station, erfragt die tagesaktuelle Tätigkeit meines Darmes und notiert meine Essenswünsche für den Rest der Woche. „Nein, nein“, antworte ich rechthaberisch, „ich bin nur 2 Tage hier im Krankenhaus.“ „Das ist Routine.“
10:25 h - Ein Assistenzarzt nimmt mir Blut ab.
10:30 h - Ich richte mich für die geplanten 2 Tage in dem Zimmer ein und registriere meine Mitpatienten. Es ist ein Dreibettzimmer. Im ersten Bett ist eine ca. 50 jährige Frau mit Schmerzen im unteren Rücken, die einen Bandscheibenvorfall vermuten lassen, deren tatsächlicher Ursprung allerdings ungeklärt ist. Die Frau liegt vorwiegend bäuchlings auf dem Bett und frönt ihrem rheinischen Wesen entsprechend der ständigen Plauderei. Im mittleren Bett befindet sich eine Frau Anfang 30. Sie ist der deutschen Sprache nicht mächtig und darüber hinaus auch nicht gewillt ist, den Ärzten und dem Pflegepersonal mittels Gesten oder Ähnlichem ihre Beschwerden zu verdeutlichen. Die dicke „Rheinländerin“ weiß ungefragt zu berichten, dass die Frau aus einem Flüchtlingslager ins Krankenhaus eingeliefert worden sei.
10:45 h - Meine Mutter setzt sich neben mein Bett und vertieft sich in einen mitgebrachten Roman. Ich setzte mich auf das Bett und bestellte via Smartphone noch zwei Weihnachtsgeschenke. Beide haben wir keine Lust auf ein Gespräch mit der Bettnachbarin, stattdessen versuchen wir uns zu beschäftigen und abzulenken.
10:50 h - Ich rufe in meiner Hausarztpraxis an, um nach den Ergebnissen der Blutuntersuchung zu fragen. Die nette Arzthelferin negiert meine Nachfrage, verspricht allerdings, den Laborbericht unverzüglich ins Krankenhaus zu faxen, sobald er vorliege.
11:00 h - Chefarztvisite!
Zuerst ist die „Rheinländerin“ an der Reihe, das nimmt gut fünf Minuten Zeit in Anspruch. Am Bett der vermeintlichen „Flüchtlingsfrau“ halten sich die Ärzte auf Grund der Kommunikationsprobleme nur kurz auf und teilen mit, sie kämen wieder, wenn der Ehemann zum Übersetzen da sei. Danach tritt der in weiß gekleidete Tross an mein Bett und der Chefarzt sagt: „Ahh ja - Guten Tag. Bei Ihnen ist es komplizierter. Das wird ein längeres Gespräch. Da komme ich nachher noch mal wieder.“ Ich bin ob dieser Mitteilung sehr verblüfft. Und enttäuscht. Also wieder warten. Wenigstens meine Mutter hat ihre Sprache nicht verloren und fragt: „Wann ist denn ‚nachher’?“ „Am frühen Nachmittag.“
11:08 h - Warten auf Godot.
11:30 h - Warten auf Godot.
11:45 h - Warten auf Godot. Ich gehe raus, um eine Zigarette zu rauchen.
12:00 h - Mittagessen für die stationären Patienten
12:00 h - Warten auf Godot.
12:00 h - Warten auf Godot.
12:00 h - Meine Ungeduld steigt stetig. Immer wieder blicke ich auf meine Armbanduhr. Die Zeit scheint nicht zu vergehen. Ich stelle fest, dass meine Uhr stehen geblieben ist. Kein Tick-Tack zu hören. Dabei habe ich erst vor drei Wochen im Uhrenfachgeschäft eine neue Batterie einsetzen lassen. Der Kassenbeleg ist sogar noch in meinem Geldbeutel. Erst beim genaueren Betrachten meiner Armbanduhr sehe ich, dass alle drei Zeiger - Stunden-, Minuten- und Sekundenzeiger - exakt auf der Ziffer 12 stehen geblieben sind. Wie kann das denn sein? Perfidität!
12:00 h (14:00 h) - Wann genau ist es früher Nachmittag? Ich gehe auf den Flur der Station und beobachte das Stationspersonal. Weit und breit ist kein Arzt zu sehen. Also wieder zurück ins Zimmer.
12:00 h (14:05 h) - Warten auf Godot.
12:00 h (14:25 h) - Das bekannte Phänomen: Wenn man im Restaurant aufs Essen
wartet und sich zum Zeitvertreib eine Zigarette anzündet, kommt das
Erwartete plötzlich doch. Also gehe ich erneut raus, um eine
Zigarette zu rauchen. Meine beiden Bettnachbarinnen gehen mit. Die „Flüchtlingsfrau“ steht nur stumm da. Die „Rheinländerin“ plaudert umso mehr. „Warum biste denn hier?“
Ich nenne meine Diagnose und sofort plappert die Rheinländerin los:
„Ach Jott, Kind, du bist noch so jung. Dat is aba schlimm. … … … “
Wie häufig in solchen Situationen bin ich genervt: Natürlich weiß ich, dass ich
jung bin und dass ich eigentlich einen anderen Plan für mein Leben
hatte. Aber jetzt … Ich kann es nicht ändern. Um die negative
Stimmung beiseite zu schieben, mache ich wie so oft einen Scherz zu
der Situation:
„Am Anfang hatten wir mein Leben geplant. Wir lachen
immer noch - meine Leben und ich.“
Tatsächlich denke ich: ‚Nimm
deinen Finger aus der Wunde, es tut weh!’
12:00 h (14:45 h) - Warten auf Godot.
12:00 h (15:00 h) - Erneut blicke ich in den Flur. Um nicht gänzlich untätig zu sein, gehe ich zum Schwesternzimmer. Frage. Antwort. Der Arzt halte gerade Vorlesung für seine Studenten. Es dauere noch ein wenig.
12:00 h (15:10 h) - Auf dem Tisch gegenüber meines Bettes ist eine Spiele-Sammlung. Meine Mutter und ich beschließen, etwas zu spielen. In dem sehr angeranzten Karton sind allerdings kaum noch Figuren; nur für das Mühle-Spiel sind ausreichend Bestandteile vorrätig. Also spielen wir Mühle. Jedoch weiß keiner von uns beiden, wie das Spiel tatsächlich geregelt ist. Dennoch schieben wir möglichst sinnvoll die Spielsteine umher. Gewonnen hat: Niemand. Nach den uns bekannten Regeln.
12:00 h (15:30 h) - Besuchszeit. Die „Rheinländerin“ bekommt Besuch von einer
Tochter, deren Mann und dem Enkelkind. Es herrscht hektischer
Betrieb in dem Patientenzimmer. Alle vier Personen verlassen und
betreten in unregelmäßigen Abständen das Zimmer.
Meine Mutter
vertieft sich erneut in ihr Buch und ich versuche, ein spätes Mittagsschläfchen zu machen.
12:00 h (16:00 h) - Warten auf Godot.
12:00 h (16:15 h) - Warten auf Godot.
12:00 h (16:30 h) - Endlich ist das Fax von meiner Hausarztpraxis angekommen.
12:00 h (16:45 h) - Ich rufe die Sekretärin des Chefarztes an. Es dauere noch ein wenig. Genaueres könne sie mir nicht sagen.
12:00 h (17:00 h) - Meine Mutter besorgt sich am Kiosk etwas zu essen und geht auch eine Zigarette rauchen.
12:00 h (17:15 h) - Der Besuch meiner Bettnachbarin verabschiedet sich. Wenigstens ist es jetzt wieder ruhiger in dem Zimmer.
12:00 h (17:25 h) - Warten auf Godot.
12:00 h (17:30 h) - Endlich erscheint der Chefarzt.
Ungefähr zwanzig Minuten dauert das Gespräch. Der Arzt erklärt mir, dass erfahrungsgemäß die Gabe von Tysabri trotz vorherrschendem Virus für einen Zeitraum von 2 Jahren relativ gesichert sei. Genaueres wissen Patient und Arzt natürlich erst nach den ersten Infusionen. Ob das Medikament greift und ob der Patient es verträgt. Nach zwei Jahren würde er als verantwortlicher Arzt mir das Medikament allerdings auf keinen Fall mehr verschreiben, weil es dann eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit gäbe, dass die tödliche PML austritt.
Was in zwei Jahren ist … welches Medikament es dann geben wird … ob mir die Eskalationstherapie mit Tysabri die erhoffte Erleichterung bringen wird??? Alles ist unklar, aber klar ist mir, dass ich es nicht wissen werde, ohne es auszuprobieren. Die Hoffnung überwiegt die Angst und deshalb entscheide ich mich für Tysabri.
Der Arzt werde das Medikament bestellen und 24 h nach der ersten Infusion könne ich nach Hause. Das schier unendlich lange Warten hat ein Ende. Ich bin beseelt nach dem Gespräch.
8.2 Distanzvermindert
Am nächsten Morgen wache ich früh auf und sehe der Infusion entgegen. Bis nach dem Mittagessen passiert allerdings gar nichts. Am frühen Nachmittag suche ich den Chefarzt auf. Ich will wissen, wann ich endlich die Infusion bekomme. Plus 24 h. Ursprünglich war von zwei Tagen stationärem Aufenthalt die Rede. Für diesen Zeitraum habe ich die Betreuung meines Kindes geregelt. Jetzt sind schon eineinhalb Tage vergangen und außer einem 20-minütigem Gespräch ist nichts passiert. In nicht weniger barschem Tonfall weist mich der Chefarzt darauf hin, dass ich am kürzeren Hebel sitze. Er habe das sehr teure Medikament bestellt. Wenn ich nicht warten wolle, könne ich ja gehen. Dann allerdings bekäme ich keine Infusion.
Aha.
Also weiter warten. Unbestimmt, wie lange noch. Ich telefoniere und kläre die weitere Betreuung meines Kindes. Und versuche anschließend, meine Ungeduld zu zügeln. Mich irgendwie zu beschäftigen.
Während die Zimmerbesatzung eine Zigarette raucht, erzählt die „Rheinländerin“ unaufgefordert vom Zustand ihrer Brust: diese sei sehr in Mitleidenschaft gezogen worden durch sechs leibliche Kinder, von denen sie fünf gestillt habe, und anschließend durch die häufigen Kortisongaben. Ich stelle meine Ohren auf Durchzug und reagiere nicht darauf. ‚Bestimmt hört sie dann auf’, denke ich mir.
Am frühen Abend sitze ich am Tisch und lese. Die „Flüchtlingsfrau“ liegt in ihrem Bett und ist still. Die „Rheinländerin“ liegt ebenfalls im Bett und plaudert - ungeachtet der Tatsache, dass eine Frau im Zimmer ihre Sprache nicht versteht und die andere Frau im Zimmer in ihre Lektüre vertieft ist. Dann aber spricht sie mich direkt an. Sie stellt sich vor ihrem Bett und - schwups - zieht die „Rheinländerin“ ihr T-Shirt hoch, um mir und der „Flüchtlingsfrau“ ihre nackte, linke Titte zu zeigen. Anschließend schaukelt sie sie gemütlich in der Hand und betont, dass die Brust 2,5 kg wiegt. Ich glaube, mein Blick ist SEHR entsetzt, weil die „Rheinländerin“ sagt:
„Na bevor dir schlescht wird, mach ich ma widda zu.“
8.3 Die erste Infusion
Der nächste Morgen zieht sich ebenfalls wie Kaugummi. Erneut gehe ich eine Zigarette rauchen und bin baff erstaunt, als ich zurückkomme, und zufällig mitbekomme, dass das Medikament endlich da ist. Nach den letzten beiden Tagen bin ich viel zu ernüchtert, um mir ernsthaft Gedanken über Unverträglichkeitsreaktionen oder gar einen anaphylaktischen Schock zu machen. Nachdem mir der Assistenzarzt den Zugang gelegt hat und die Infusion endlich in meine Adern fließt, bin ich nur unendlich müde. Am späten Nachmittag werde ich entlassen.