mein Tillmann (2008)

Anja hat seit eineinhalb Jahren die Diagnose MS. Ihre Ausfälle sind noch sehr überschaubar. Vielmehr ist sie Anfang des Jahres 2008 mit den üblichen Frauenproblemen beschäftigt: Anja findet sich zu dick. Deswegen hat die junge Frau letztes Sylvester beschlossen, endlich abzunehmen. Und mehr Sport möchte sie künftig auch treiben.

Es ist 18.00 am 04. Januar 2008. Anja schnappt sich ihre Nordic Walking Stöcke, um den Vorsatz gleich in die Tat umzusetzen. In der Nähe ihrer Frankfurter Wohnung gibt es einen kleinen Park. Dort möchte sie einige Runden walken.

 

Anja findet es angenehm, dass in dem Park außer der beginnenden Dunkelheit und den Laternen niemand ist. Es geht recht gut. Und es macht ihr sogar Spaß. Außerdem ist Anja bollig stolz, die Sylvester-Vorsätze als bald umgesetzt zu haben.

„Zumindest der Anfang ist gemacht“, denkt sie.

 

Aber noch bevor Anja die erste Runde beendet hat, passiert es. Quasi aus dem Nichts. Die Beine der jungen Frau versagen für einen kurzen Moment ihren Dienst. Anja kommt ins straucheln und fällt hin. Instinktiv reißt sie ihre Arme nach vorne. Daran hängen allerdings die Nordic Walking Stöcke. Und durch die Daumenschlaufen sind ihre Daumen in ausgestreckter Position fixiert. Anja landet mit ihrem ganzen Körpergewicht auf der Spitze ihres linken Daumens.

KRACK

Ein sehr lauter Ton ist zu hören. Anja brüllt genauso laut:

„AUA!!!“

Sie spürt einen riesigen Schmerz und fängt laut an zu heulen. Jetzt fände Anja es großartig, wenn in dem Park irgendjemand wäre und ihr zu Hilfe käme. Aber sie ist allein.

Mühsam rappelt sich die junge Frau vom Boden auf. Unter schmerzhafter Anspannung öffnet sie den Klettverschluss der linken Daumenschlaufe. Darunter trägt Anja wegen der Januar-Kälte halbe Fingerhandschuhe. Trotz des Stoffes sieht ihr Daumen sehr deformiert aus. Der höllische Schmerz erlaubt es Anja nicht, den Handschuh auszuziehen.

Heulend geht Anja zu der großen Straße, die zwischen dem Park und ihrer Wohnung liegt. Sofort hält ein Taxi, das sie zum nächsten Krankenhaus fährt.   

“Na manchmal hat die Stadt Frankfurt also doch Vorteile“, denkt Anja.

 

Als Anja in der Notaufnahme des Krankenhauses ankommt, ist der Wartebereich vollbesetzt mit hochschwangeren Frauen. Anja ist durch den Anblick demotiviert. Sie befürchtet eine ewig lange Wartezeit.   

Halb wahnsinnig vor Schmerz wendet Anja sich an den Pfleger hinter der Anmeldung. Der Pfleger zieht ihr vorsichtig den Handschuh aus. Und dann sagt er zwei Dinge, die auch Anja guter Hoffnung sein lassen.

„1. Wir ziehen Sie mal vor. 2. Ich bin mir fast sicher, dass Ihr Daumen nicht gebrochen ist.“   

 

Gleich drauf wird Anja zum Röntgen gebracht. Als die Krankenschwester die Hand der jungen Frau flach auf die Röntgenplatte drückt, wird Anja vor lauter Schmerzgefühlen fast ohnmächtig. Aber immerhin bestätigen die Röntgenaufnahmen, dass Anja sich nur das erste Glied ihres linken Daumes ausgerenkt hat. Den riesigen Schmerz hat sie, weil ihre Gelenkkapsel komplett zerrissen ist.

 

Anschließend wird Anjas Daumenglied von einem anderen Arzt wieder eingerenkt. Um nicht allzu laut zu brüllen, steckt sich die junge Frau eine volle Packung Taschentücher in den Mund und beißt fest zu. Schließlich wird ihr Daumen zur Stabilisierung in eine harte Plastikschiene gepackt und dick bandagiert.

 

Als Anja die Schiene drei Wochen später wieder abnehmen darf, kann sie ihren Daumen nicht bewegen. Er ist komplett steif. Deshalb ordnet die Hausärztin Krankengymnastik an.   

“Wie albern ist das denn? Jetzt habe ich montags Krankengymnastik wegen meiner MS und mittwochs wegen meines steifen Daumens“, protestiert Anja innerlich.   

Doch schon beim ersten Termin erklärt die Krankengymnastin der jungen Frau einleuchtend, dass der Körper ein Körperteil, dass nicht benutzt wird, sehr schnell abstößt.

Und Anja hat ihren Daumen, während er drei Wochen in der Plastikschiene steckte, nicht benutzt. Im Gegenteil: Sie konnte alles machen, weil der Zeigefinger die meisten Funktionen ihres Daumens übernommen hat. Beim Essen zum Beispiel hat die Gabel ihren Platz zwischen Zeige- und Mittelfinger der linken Hand gehabt.   

„Du musst deinen Daumen benutzen, auch wenn es weh tut und schwer fällt. Bezieh ihn ein! Gib ihm einen Namen“, rät die Krankengymnastin.   

Seit dem ersten folgenreichen MS-Sturz heißt Anjas linker Daumen Tillmann. 

Röntgenaufname von Tillmann (04.01.2008)
Röntgenaufname von Tillmann (04.01.2008)