Reha ist keine Kur. Reha bedeutet einen straffen Zeitplan für die meisten Patienten. Montags bis Freitags hetzen sie von Anwendung zu Anwendung. Für Müßiggang bleibt kaum Zeit, zumal die Patienten abends ab 22 h in der Klinik sein müssen. Nur am Samstagabend ist Ausgang bis 24 h gestattet.
Wir waren eine bunt gemischte Clique: verschiedene Charaktere, verschiedene Jahrgänge, verschiedene Erkrankungen. Aber wir verstanden uns gut. Sehr gut.
Als die Frage nach der Samstagabend-Beschäftigung aufkam, wussten einige aus der Clique, dass unten im Ort eine Schlagerparty stattfände. Tja: Schlager ist so gar nicht meine favorisierte Musikrichtung. Aber vor die Wahl gestellt zwischen solch einer Veranstaltung und einem weiteren langweiligen Abend allein in der öden Reha-Klinik … ich ging mit.
Also eigentlich ging ich nicht. Tatsächlich fuhren Muddi, eine liebe Mitpatientin, und ich mit dem Auto runter in den Ort. Alle anderen gingen zu Fuß. Als wir beiden Frauen das Lokal betraten, verkündete Muddi lautstark:
„Wir sind die aus der Anstalt. Die Anderen kommen gleich.“
Ein extrovertiert aussehender Mann an der Theke antwortete:
„Und ich bin hier der Karikaturist.“
Das Lokal war eine Mischung aus Bistro und Kunstgallerie. An den Wänden hingen viele Bilder, die den eigenwilligen und doch interessanten Strich des Karikaturisten zeigten. Auch er selbst sah eigenwillig und doch interessant aus: Seine schulterlangen grauen Locken wurden von einer schwarzen Baskenmütze bedeckt, die Augen waren schwarz geschminkt. Und obwohl der Mann körperlich klein und mager war, wirkte er durch seine Ausstrahlung überaus präsent. Ansonsten waren in dem Lokal nur wenige Gäste und eine blonde, hübsche Bedienung. Muddi und ich stellte erfreut fest, dass wir quasi eine Privatparty haben würden.
Die Anderen aus unserer Clique trudelten ein und der Abend nahm seinen Lauf. Allesamt hatten sie Spaß am Alkohol und am Schlager. Da ich weder das eine noch das andere goutierte, beschloss ich, mir einen kleinen eigenen Spaß zu machen. Ich ging zu dem Karikaturist und fragte ihn, ob er eine Schnellkarikatur von mir machen würde. Mit einem Seufzen willigte er ein und sagte:
„Aber nur, weil du so schöne Augen hast!“
Nachdem der Karikaturist lange und umständlich einen Block und Stifte gesucht hatte, ging es los. Ich stand neben einem Stehtisch und wurde drei Minuten lang im Profil karikiert. Als die Karikatur fertig war, zeigte mir der Künstler sein Werk. Ich musste herzhaft lachen, weil er meine Brüste übertrieben groß dargestellt hatte.
Und dann - wie aus dem Nichts - ohne Ankündigung - fiel ich in voller Länge auf den Boden.
Im Fall riss ich den Stehtisch mit mehreren halbvollen Flaschen Bier und den Zeichenutensilien um. Es schepperte laut. Auf dem Boden war ein großes Chaos: Scherben, Bierlachen, Stifte, …
Sofort eilten zwei Männer aus der Clique herbei und halfen mir, aufzustehen. Körperlich war mir durch den Sturz nichts passiert; nicht mal blaue Flecke. Aber seelisch entsprach dieser Sturz einem Tritt in den Magen. Mal wieder hatte mir die Krankheit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Eigentlich wollte ich an dem Abend so fröhlich und ausgelassen wie die anderen aus der Clique sein. Und dann so etwas! Tatsächlich war es mir unglaublich peinlich.
But then …
Die Bedienung kam, brachte Putzlappen und Eimer mit, um die Bierlachen aufzuputzen. Sofort schickte ich mich kleinbürgerlich an, ihr zu helfen. Weil es doch schließlich meine Schuld war, sagte ich:
„Entschuldigung bitte. Das ist mir wirklich peinlich. Ich gehöre zu den Reha-Patienten. Und … “
Die Bedienung sah mich aufmunternd an und entgegnete gelassen:
„Jeder hat ein Handicap. Ich hab nur einen Arm.“
Daraufhin sah ich staunend die Prothese anstelle ihres rechten Arms. Das hatte ich nicht erwartet. Eine bessere Reaktion auf meinen der Behinderung geschuldeten Sturz hätte es nicht geben können. Vielen Dank!