31.10.2022

Shame, Shame, Shame ...

Kürzlich bekam ich die Rückmeldung, dass mir doch bestimmt nichts peinlich sei. Es war während der Physiotherapie. Aus aktuellem Anlass absolvierte ich zum wiederholten Male ein Falltraining. Allerdings lag der Fokus nicht auf dem Fallen an sich, sondern das Aufstehen war Ziel des Trainings. Nachdem ich zum zehnten Mal mühsam und ächzend vom Boden aufgestanden war, stellte ich fest:

„Es macht mir gar nichts aus, dass mich die anderen Patienten in dem kleinen Trainingsraum beobachten."

Mittlerweile. Das war schon anders!

Scham begleitet meine MS-Karriere wie ein treuer Hund. Oft schäme ich mich für meine (körperlichen) Defizite. Eigentlich ist mir klar, dass ich unschuldig für diese Defizite bin; tatsächlich ist mir auch klar, dass ich um derentwillen vielen Normen nicht gerecht werde.

 

Was ist Scham? Wie äußert sich Scham?

 

Der Mensch empfindet sechs Grundgefühle (nämlich: Angst, Ekel, Glück, Trauer, Überraschung und Wut), aus denen sich alle anderen Gefühle zusammensetzen.

Alle Gefühle gehen mit einer bestimmten Mimik und Körpersprache einher. Amüsant sind Beispiele für gegenteilige Bedeutungen von Gesten. Zum Beispiel gilt in Bulgarien und einigen Gegenden Indiens: Kopfschütteln bedeutet JA, Kopfnicken bedeutet NEIN. Auch bekannt ist, dass in Deutschland ein nach oben gestreckter Daumen positiv konnotiert ist, in anderen Kontinenten (z. B. Australien, Teilen Afrikas und Asiens) ist diese Geste eine (obszöne) Beleidigung.

 

Im Gegenteil zu den genannten Beispielen gibt es ein Gefühl, das sich auf der ganzen Welt gleich äußert: Scham. Dieses Gefühl wird durch das Senken der Augenlider, Abwenden des Blicks, zur-Seite-drehen des Kopfes und Erröten der Haut geäußert.

 

Grundsätzlich beziehen sich Schamgefühle auf das, was wir sind (nicht auf das, was wir tun). Möglichst angepasst an gesellschaftliche Normen ist das angestrebte Ideal. Passt man nicht in diese Normen hinein, empfindet man Schamgefühle. Dieses negative Gefühl entsteht gleichfalls, wenn man beurteilt, dass Andere nicht in die gesellschaftlichen Normen passen. Man empfindet Fremdscham.

„Ey, voll cringe!!“

 

Scham wird von je her durch gesellschaftliche Normen determiniert. Alles, was nicht recht ist, wird als und mit Scham bezeichnet. „[F]ür die Kirche war alles, was mit Sex zu tun hatte, Teufelszeug, für das man sich gefälligst zu schämen hatte. Deshalb nannten sie Genitalien auch genau so: Pudentum. Das ist das Partizip von beschämen. Und die Lippen der beschämenden Teile sind halt Schamlippen.“ [1]

 

Unabhängig von den Zeitumständen und der Religion ist Sexualität für Viele sehr schambehaftet. Darüber zu sprechen ist kaum möglich, da die normativen Grenzen sehr eng sind. Bei mir nicht 😉 (mit den bereits häufig genannten beiden Ausnahmen: nur für Erwachsene und nur auf freiwilliger Basis). Wohl deswegen wird mir „unterstellt“, dass mir „doch bestimmt nichts peinlich sei“.

 

Scham gehört zu den selbstbezogenen Gefühlen, die erst ab Mitte des zweiten Lebensjahrs entstehen. Erst ab diesem Zeitpunkt entwickeln Kinder ein Konzept von sich selbst, werden sich ihres Selbst bewusst. [2]  

Solange der Mensch möglichst angepasst an die gesellschaftlichen Normen ist, besteht keine Scham. Sobald mensch allerdings nicht in diese Normen passt, schämt mensch sich. Dabei geht Scham einerseits mit der Befürchtung einher, ausgeschlossen zu werden. Aufgrund der Andersartigkeit wird eine Stigmatisierung befürchtet. Andererseits erlebt mensch Scham auch als plötzliches Bewusstsein der eigenen Inkompetenz. Daraus ergibt sich wiederum eine Selbststigmatisierung.

 

Zusätzlich zu den allgemeingültigen Normen und Werten hat Jede*r sein eigenes Schamempfinden. Manche Menschen schämen sich für (fast) Nichts, andere Menschen sind (fast) ein wandelndes Schamgefühl. Unterschiedlich sind auch die Themen / Bereiche, für die man sich schämt. Ich persönlich empfinde keine Scham, allgemein über Sexuelles zu sprechen; dafür ist vieles in meiner MS-Karriere schambehaftet.

Im letzten Vierteljahr wurde ich am Telefon dreimal sehr direkt gefragt, ob ich noch gehen könne. Zwar ist die Frage in gewisser Weise nachvollziehbar, da ich Gelegenheits-Rollstuhlfahrerin bin. Dennoch empfand ich die Frage als unverschämt – zumal sie jedes Mal direkt nach der Begrüßung gestellt wurde. Der gesellschaftlichen Norm entsprechend könnte man zuerst ein wenig Konversation betreiben – sich zum Beispiel nach dem Befinden erkundigen. Aber nicht allein diese Normverletzung fand ich beschämend. Wahrscheinlich empfand ich persönlich diese Frage als unverschämt, weil sie mich auf eines meiner körperlichen Defizite hinweist. Auf eines, für das ich mich mitunter schäme.

 

Das Thema Behinderung und das Thema Scham haben eine recht große gemeinsame Schnittmenge. Das Verhalten gegenüber Behinderten ist oft mit Scham besetzt – für mich als Behinderte ist auch Einiges mit Scham besetzt. 

Passend dazu habe ich drei kleine Anekdoten – sozusagen multiple Szenen mit Spaß.

         


[1] Kolumne Mithulogie: „Vulvalippen“ in den Duden! – taz.de. https://taz.de/Mithulogie/!t5403266/22.10.2018 [30.10.2022]

[2] Vgl. Dorsch – Lexikon der Psychologie, hrsg. v. M. A. Wirtz. 20. überarb. Auflage 2021, Hogrefe Verlag.