2. Stroosefest
Es ist ein lauschiger Sommerabend. Auf der Dorfstraße reihen sich urige Essens- und Getränkestände aneinander. Dazwischen gibt es zahlreiche Sitzgelegenheiten. Alles ist liebevoll mit ländlichen Blumen geschmückt. Zusätzlich sorgen viele Lichterketten für Gemütlichkeit.
Die Straße ist überfüllt von Besuchern. In der Luft schweben der Geruch von herzhaften Leckereien und die Klänge der Brassband, die mit Livemusik unterhält. Über der ganzen Szenerie liegt eine gutgelaunte, fröhliche Stimmung.
Anja besucht zum ersten Mal dieses Straßenfest. Die Atmosphäre entzückt sie. Schnell ist ihr klar, warum ALLE in der Region immer so begeistert von dieser Veranstaltung sprechen. Viele bekannte Gesichter, nette Schwätzchen, …
eine bunte Vielfältigkeit. Mit dörflichem Charakter. Und deswegen viel authentischer als die schicken, modernen Street-Food-Festivals.
Je später der Abend wird, desto mehr frönen die Besucher dem Alkohol. Werden ausgelassener. Aus den Schwätzchen werden derbe Späße – die nur für beschwipste Zuhörer amüsant sind.
Dass Alkohol auf derlei Veranstaltungen ab einem bestimmten Zeitpunkt einen trennenden Vorhang zwischen sie und ihre Freunde schiebt, kennt Anja bereits seit vielen Jahren. Meistens hat sie sich dann selbst beschäftigt. Mit besten Absichten. Des Öfteren schon ist das Gegenteil eingetroffen [vgl. meine Karikatur] – so auch an diesem Abend.
Anja beschließt, mit ihrem Rollstuhl die geschmückte Dorfstraße entlangzufahren, um sich in Ruhe die Szenerie anzusehen. Trotz der späten Stunde sind immer noch viele Besucher anwesend, allerdings glucken sie inzwischen in Gruppen um die Bier- und Wein-Pavillons.
Am Ende der Dorfstraße hat sich auf einem Bürgersteig die Brassband formiert. Anja stellt sich im Rolli auf den gegenüberliegenden Bürgersteig. Die Straße dazwischen ist leer – links von Anja stehen in circa 5 Meter Entfernung die ersten beleuchteten Stände, rechts von ihr liegt in Dunkelheit der Dorfausgang.
Anja ist glücklich ob des schönen Abends. Das Stroosefest und die Musik gefallen ihr. Sehr gut sogar. In ihrem Rolli sitzend tanzt Anja mit und für sich selbst. Verschmitzt lächelnd sucht sie den Blick des Sousaphon-Spielers.
Die schummrige Festbeleuchtung lässt Anja die Wirklichkeit ausblenden. Bis dass …
Im rechten Augenwinkel sieht Anja, wie sich ihr eine Person nähert. Im selben Augenblick schießt eine Streckspastik in ihr rechtes Bein – der Unterschenkel schnellt in die Höhe. Anja hält sich an ihrem Rolli fest, damit es sie nicht aus dem Sitz reißt. Gleichzeitig ist die von rechts kommende Person da und stolpert über Anjas ausgestrecktes Bein.
Glücklicherweise ist der Mann nur heftig gestrauchelt und nicht komplett flach hingefallen. Dennoch schämt Anja sich, dem Mann – wenn auch unabsichtlich – ein Bein gestellt zu haben. Der Mann wiederum schämt sich, gegen eine Rollstuhlfahrerin getreten zu haben.
Zwei Gründe für Scham zeigen sich in dieser kleinen Anekdote:
Anja schämt sich für ihr körperliches Versagen. Sie kann ihren Körper zwar nur bedingt steuern, aber dennoch fühlt sie sich dafür verantwortlich.
Der Mann schämt sich wegen seines Normverstoßes – schließlich ist es nicht p. c., eine gehandicapte Person (oder deren Hilfsmittel) zu treten.
Nach diversen gegenseitigen Entschuldigungen löst sich die Situation auf.
Als Anja den Mann nicht mehr sehen kann, muss sie
herzhaft lange lachen.
So ein absurder Zufall!!
P. S.: Zu nächtlicher Stunde zeigt ein sehr betrunkener Bekannte der noch immer nüchternen Anja mehrere Nackt-Selfies.
Ich sage dazu: FREMDSCHAM!!!